Nach Toreschluss - die Wochenendsatire Zweigeschwänzte Ziege
Wuppertal · Vorigen Mittwoch hätte der berühmte Rhetorik-Professor Walter Jens seinen hundertsten Geburtstag gefeiert, wenn er nicht vor zehn Jahren gestorben wäre. Das ist schade, aber auf diese Weise ist er wenigstens nicht mehr Gefahr gelaufen, eine der jüngsten Sitzungen des Wuppertaler Stadtrates miterleben zu müssen.
Denn was dort auf Wuppertals vornehmster politischer Bühne ins Mikrofon gestammelt wird, erinnert im Hinblick auf die Vortragskunst vielfach leider eher an den zum Scheitern verursachten Versuch eines übernervösen Grundschülers, seine Deutsch-Hausaufgaben vorzulesen.
Nun sollte man wissen, dass in der Geschäftsordnung des Wuppertaler Stadtrates (Fassung von 2020) folgender Satz steht: „Die Redner / Rednerinnen sprechen von ihrem Pult oder vom Rednerplatz aus in freier Rede. Aufzeichnungen können genutzt werden.“
Die Hersteller dieser Vorschrift hatten dabei sicherlich vor Augen, wie sich eloquente Köpfe unterschiedlicher politischer Couleur auf hohem Niveau mit Worten duellieren, dabei feinsinnige rhetorische Pfeile abschießen und ihre Zuhörer insgesamt mit pointierter Betonung, prägnantem Ausdruck und flüssigem Vortrag fesseln, während vor ihnen allenfalls eine Notiz mit ein paar Stichworten oder Zahlen liegt. Das ist sinnvoll, weil es ja hier um das Stadtparlament handelt und das Wort Parlament ja vom französchen Verb „parler“ – sprich: reden – und dem Substantiv „parlement“ – sprich: Unterredung – abstammt. Wenn man da was vorlesen soll, säßen die Politiker im Lirement.
Die Praxis sieht in Wuppertal trotzdem so aus, dass sich wildfremde Menschen bereits in den Armen liegen, wenn im Rat jemand einen ganzen Satz mit Subjekt, Prädikat und in seltenen Fällen auch noch richtig dekliniertem Objekt ohne Versprecher von seinem selbstverständlich komplett ausformulierten Redemanuskript abliest.
Das ganze Drama wird zu allem Überfluss seit einigen Jahren auch noch live mit Bild und leider auch Ton im Internet übertragen und ist darüber hinaus dort auch später noch abrufbar. Das entsprechende Format auf der Homepage der Stadt Wuppertal heißt „Rats-TV“. Wer sich diese quälenden Dokumentationen anschaut, wird feststellen, dass wegen der einschläfernden Wirkung der lendenlahmen Reden der Name „Ratz-TV“ deutlich passender wäre.
Theoretisch müsste der Oberbürgermeister allen Mitgliedern dieses Rats-Lesezirkels also wegen des Verstoßes gegen das Satzungs-Gebot der freien Rede das Wort entziehen oder den Zettel wegnehmen. Dann wären die Sitzungen allerdings ungefähr nach fünf Minuten beendet und man würde die wenigen unterhaltsamen Momente im Stadtparlament verpassen.
So wie am Montag, als sich nach zweieinhalb Jahren im Rat erstmals ein Vertreter der Fraktion von „Die Partei“ ans Pult begab, um den sicherlich in monatelanger Kleinarbeit erarbeiteten Antrag zu begründen, das Wuppertaler Stadtwappen mit dem Löwen durch ein wie folgt beschriebenes zu ersetzen: „Das Wappen der Stadt Wuppertal zeigt in Silber, auf zwei goldenen Garnsträngen stehend, eine nach links blickende, zweigeschwänzte rote Ziege, blau bewehrt und blau bekrönt, welche einen schwarzen Rost hält.“
Weil die schriftliche Begründung des Antrags etwas knapp ausfiel („Ziege – duftes Tier!“), vertiefte der Partei-Stadtverordnete Jens Petersen sie im Plenum durch einen gereimten Vortrag. Auszug: „Der Löwe, oll und magersüchtig, / ziert Wuppertal nicht mehr so richtig. / So woll‘n wir mit dem Zeitgeist geh‘n, / und zukünftig zur Ziege steh’n.“ Das war natürlich genauso blödsinnig wie der Vorschlag selbst, hob sich aber immerhin von den sonstigen rhetorischen Tiefflügen mit der Wirkung einer Dosis Valium ab.
Trotzdem fiel die Ziege durch, während ein anderer Antrag angenommnen wurde. Gestellt hatten ihn 25 weibliche Stadtverordnete, die sich ein höhenverstellbares Redepult wünschen, auf dass künftig Menschen jeder Größe und Konstitution gleiche Bedingungen beim Vortrage haben. Das ist nachvollziehbar. Und wenn man in das neue Pult auch noch eine Niveauregulierung für die Rhetorik einbauen könnte, wäre das umso besser ...
Bis die Tage!