Nach Toreschluss - die Wochenendsatire Lasst die Deckel frei!

Wuppertal · Diese Woche war der Komet Tsuchinshan-Atlas am Abendhimmel zu sehen. Ich habe ihn leider verpasst und muss jetzt 80.000 Jahre warten, bis er wiederkommt. Bis dahin habe ich dann möglicherweise aufgehört, mich über die neue Verordnung aufzuregen, mit der es der EU einmal mehr erfolgreich gelungen ist, in unser tägliches Leben einzugreifen und selbiges beschwerlicher zu machen.

2019 sammelte die AWG die Deckel für eine Aktion im Kampf gegen Polio. Nun sollen sie an der Flasche bleiben.

Foto: AWG

Diesen grandiosen Coup werden Sie auch schon bemerkt haben: Die Schraubverschlüsse von Plastikflaschen und Einwegverpackungen müssen per EU-Verordnung seit Juli fest mit den Pullen verbunden sein. Damit soll Plastikmüll vermieden werden, was im Prinzip löblich, in der Praxis allerdings fatal ist.

Immerhin hat schon der Erfinder des Flaschen-Schraubverschlusses im Jahr 1889 erkannt, dass es gewisse Vorteile hat, den Deckel abmachen zu können. Jetzt aber baumeln die Deckel nach dem Öffnen an Plastikbändchen. Die Konstruktionen sind ihrer Form dem Kometen Tsuchinshan-Atlas nicht unähnlich und führen zu Folgendem: Will man aus der Flasche trinken, hängt einem wahlweise der Verschluss in der Nase oder der Verbindungs-Nuppi zwischen den Lippen. Letzteres führt meist dazu, dass sich das Getränk zu gleichen Teilen in den Hals und auf den Pulli ergießt. Der Versuch, aus diesem Gebinde einen Tomatensaft zu trinken, führt daher zu Bildern wie in einem blutrünstigen Kettensägenmassaker-Film.

Roderich Trapp.

Foto: Wuppertaler Rundschau/Max Höllwarth

Sind an dem Nuppi auch noch spitze Zacken vom Abdrehen der Kappe dran, braucht man nach dem ersten Schluck möglicherweise einen erfahrenen plastischen Chirurgen, um die aufgerissenen Lippen zu reparieren.

Ähnliche Probleme ergeben sich, wenn man aus einer Flasche mit geöffnetem, aber noch am Hals baumelndem Deckel etwas in ein Glas gießen will. Der störende Verschluss sorgt nämlich gerne dafür, dass man dabei eine ähnliche Trefferquote erzielt wie die bei Olympia medaillenlos gebliebenen deutschen Sportschützen.

Besondere Freude kommt auf, wenn man sich einen der neuerdings sehr beliebten Smoothies einschütten will. Diese trendigen Drinks werden Sie kennen: Sie bestehen meistens aus Kombinationen von Grünkohl, Spinat, Roter Bete und weiteren Dingen, die zum Trinken traditionell weitgehend ungeeignet, zum Erzeugen von Flecken jedoch geradezu prädestiniert sind. Vor allem, weil deren Flaschen erstens gerne große Öffnungen mit entsprechend großen Deckeln haben und zweitens vor dem Öffnen gut geschüttelt werden müssen. Im Idealfall tropft deshalb das erste halbe Schnapsglas mit rot-grünem Grütz aus dem gefesselten Deckel direkt auf die Tischdecke oder das Beinkleid.

Eingießen oder aus der Flasche trinken birgt bei diesen ausladenden Pullenausgängen dann natürlich ebenfalls die schon beschriebenen Risiken, weshalb man dazu verleitetet werden könnte, den Deckel wutentbrannt abreißen zu wollen. Davor kann ich nur warnen, weil die Verschlüsse vom Erfinder der Handschellen konzipiert wurden und sich höchstens in Verbindung mit einem Rückstoß lösen, der den kompletten Flascheninhalt großflächig über den Zürnenden und weitere unbeteiligte Opfer verteilt.

Man könnte deshalb auch auf die anarchistische Idee kommen, den Verschluss einfach mit einer Schere abzuschneiden, aber dann kommt bestimmt ein EU-Kommissar und verhaftet einen ...

Ob der positive Umwelteffekt durch die angebundenen Deckel tatsächlich eintritt, muss sich noch zeigen. Menschliche Flaschen, die früher Plastikdeckel einfach in die Gegend geschmissen haben, werden das im Zweifel auch tun, wenn an denen noch eine Pulle dran hängt. Ich persönlich habe das ohnehin noch nie gemacht, dafür seit Juli aber schon mehrere Extra-Waschmaschinenladungen mit verschlussversauten Anziehsachen und Tischtüchern produziert. Daher mein Appell: Lasst die Deckel wieder frei!

Bis die Tage!