Rundschau: Herr Lietzmann, Sie sind jetzt 70 und waren seit 2002 an der Bergischen Uni. Ziehen Sie sich nun aufs Altenteil zurück?
Interview mit Prof. Dr. Hans J. Lietzmann „Bürgerbeteiligung ist in Wuppertal im Koma“
Wuppertal · Der bundesweit bekannte Politikwissenschaftler und Bürgerbeteiligungs-Experte Professor Dr. Hans J. Lietzmann hat gerade seine Abschiedsvorlesung an der Bergischen Universität gehalten und ist jetzt emeriert. Im Gespräch mit Rundschau-Redakteur Stefan Seitz blickt Lietzmann auf die Vergangenheit, die Zukunft – und auf Wuppertal.
Lietzmann: „Keineswegs! Ich bin zwar emeritiert, aber weiterhin Senior-Professor. Außerdem besteht ja das Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung (IDPF) an der Bergischen Universität, in dem ich Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates bin, weiter. Hier gibt es zahlreiche Themen, Aufträge und Forschungsbereiche, um die ich mich kümmere.“
Rundschau: Was haben Sie in Ihrer Uni-Zeit als besonders einschneidend erlebt?
Lietzmann: Die Einführung der Bachelor-Studiengänge. Dadurch sind die Unis vollständig verschult und komplett verändert worden. Der Pflichtkanon ist immer gleich und das Ziel, Wissen zu akkumulieren, überlagert bei den Studierenden das Ziel, Verständnis zu entwickeln. Dass jemand wie ich immer auch Veranstaltungen zu freien Themen wie „MeToo“, Populismus oder Flüchtlingspolitik anbietet, ist selten geworden. Außerdem funktioniert Forschung fast nur noch mit fremdem, nicht mit universitätseigenem Geld. Das macht anspruchsvolle Forschung sehr aufwendig. Darunter leiden Lust und Zeit. Das intellektuelle Niveau etwa der Sozialwissenschaften, ich bin von Hause aus Soziologe, hat durch all diese Entwicklungen stark gelitten. Fachlich gesehen hat zum Beispiel die Politikwissenschaft den Kontakt zur Gesellschaftstheorie weitgehend verloren. Die Frage, warum die gesellschaftliche Realität tatsächlich so ist, wie es ist, ist in den Hintergrund geraten. Dabei ist diese grundlegende Beschäftigung, die Analyse der Ursachen der sich rasch wandelnden Realität enorm wichtig. Das beste Beispiel ist der Koalitionsvertrag, der durch die Sprunghaftigkeit der Realität eigentlich in weiten Teilen längst überholt ist.“
Rundschau: Sie haben sich immer mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen auseinandergesetzt. Was ist Ihnen in den vergangenen 20 Jahren besonders in Erinnerung geblieben?
Lietzmann: „Die Europapolitik hat sich vollständig gewandelt. Europa war früher von unglaublicher Aufbruchstimmung getragen, ist dann aber durch Brexit und Osterweiterung plötzlich zu einem Gegenstand der Kritik geworden. Neuer Nationalismus ist entstanden, eine Konkurrenz der EU-Länder untereinander, eine ganz neue Dynamik der Europapolitik.“
Rundschau: Ihr Name steht vor allem für das Thema Bürgerbeteiligung. Die Bergische Universität ist da zu einem Motor geworden ...
Lietzmann: „Wir haben 2005, passend zur Zeit, die frühere „Forschungsstelle Bürgerbeteiligung“ neu aufgestellt. Damit waren wir auf dieser Welle ganz vorn, sind heute auch engste Berater des Bundestages, der Bundes- und Landesregierungen für Bürgerbeteiligung in der Energie- und Verkehrspolitik, in der Städteplanung oder bei der Zukunft der Kohleregionen im rheinischen Revier und auch in der Lausitz.“
Rundschau: Auch Wuppertal selbst hat eine – nicht immer erfolgreiche – Vergangenheit in Sachen Bürgerbeteiligung. Wie haben Sie das erlebt?
Lietzmann: „Die Bürgerbeteiligung als wissenschaftliches Instrument ist eine Erfindung des Wuppertaler Soziologen Professor Peter Dienel, der in den 70er Jahren die sogenannte Planungszelle an der Bergischen Uni ins Leben rief. Sie kam dann schnell überall in Deutschland und auch darüber hinaus zum Einsatz. In Wuppertal allerdings nie.“
Rundschau: Bis zum Bürgergutachten zur geplanten Seilbahn im Herbst 2016 ...
Lietzmann: „Ja, das war das erste Mal, dass wir mit der Durchführung eines wissenschaftlichen Verfahrens durchgedrungen sind. Oberbürgermeister Peter Jung und Kämmerer Johannes Slawig haben zuvor geradezu Bürgerbeteiligung verhindert. Da sind wir trotz mancher guter Vorschläge regelmäßig gegen Mauern gelaufen.“
Rundschau: Das Ergebnis des Bürgergutachtens, an der Seilbahn solle weiter geplant werden, ist dann mit der Bürgerbefragung, die contra Seilbahn ausging, in der Versenkung verschwunden. Ist eine Bürgerbefragung eine Bürgerbeteiligung?
Lietzmann: „Nein. Bürgerbeteiligung ist keine Ja-oder-Nein-Veranstaltung. Diese Bürgerbefragung ist allerhöchstens eine Form von direkter Demokratie gewesen, und auch da bin ich skeptisch. Keine der Ratsfraktionen wollte sich klar positionieren, beim Thema Seilbahn keine Verantwortung übernehmen, sich nicht die Hände schmutzig machen. Das gesamte Geld, das der Bürgergutachten-Prozess gekostet hat, hätte man ebenso gut auch verbrennen können.“
Rundschau: Wie beurteilen Sie die Bürgerbeteiligung in Wuppertal heute?
Lietzmann: „Tatsächliche Bürgerbeteiligung ist in Wuppertal im Koma, klinisch tot. Das ist ein großes Problem der Stadtpolitik. Beispielhaft ist auch das Schicksal von Quereinsteigern mit Pathos wie Oberbürgermeister Schneidewind oder Ex-Bürgerbeteiligungsdezernent Paschalis: Sie treffen auf harte politische Fraktionslinien, auf ein Modell, das abgelaufen ist. Die Fraktionen öffnen sich zurzeit und schon seit langem nicht zur Stadt. Das scheint eine reine Selbstbeschäftigung. Ich fürchte, diese versteinerten Verhältnisse ändern sich erst nach einem Wechsel der Fraktionsspitzen.“
Rundschau: Gar keine Hoffnung auf frischen Wind für Wuppertal?
Lietzmann: „Ein wirklich unabhängiger Oberbürgermeister wäre ein guter, vielleicht der einzige Weg, damit die Fraktionen lernen, dass sie sich öffnen müssen und diese Verkrustungen durchgerüttelt werden. Und es müsste eine Trennung von öffentlichen Berufen und öffentlichen Ämtern geben.“
Rundschau: Sie leben seit langer Zeit in Wuppertal. Wie erleben Sie die Stadt?
Lietzmann: „Ich kenne aus Studium und Beruf beispielsweise Düsseldorf, Berlin, München, Hannover, Marburg oder die Niederlande. Wuppertal ist so lebensunfroh, so verzagt, dabei aber mit dieser „Wir machen das trotzdem gut“-Haltung. Es gibt wenig Euphorie, kaum mitreißende Figuren. Das macht alle Aufbrüche unglaublich schwer. Norddeutsche sind experimentierfreudiger, wandlungsbereiter und offener, Berliner vielleicht anarchisch. Wuppertals Atmosphäre empfinde ich im Vergleich mit vielen anderen Städten als ausgesprochen bleiern. “
Rundschau: Ein großes Themenfeld, zu dem Sie sich stets deutlich geäußert haben, war das Aufkommen des Rechtspopulismus‘ sowie auch der Umgang mit Hass und Bedrohung gegen Politiker und andere öffentliche Personen.
Lietzmann: „Das Thema Hass im Netz muss man deutlich ansprechen, es offen thematisieren. Alles andere stachelt die Hass-Personen nur dazu an, noch mehr aktiv zu werden. Gegen Rechte hilft es allerdings nichts, mit den gleichen Mitteln zurückzuschlagen. Die Parole „Kein Platz für Nazis“ hat etwas Groteskes, denn auch die Rechten sind überall. Sie sind Realität. Den Ausruf „Wir sind der Widerstand“ gibt es von rechts und von links. In beiden Fällen muss man Demokratieverweigerung konstatieren. Über Hass im Netz und die politischen Zustände am Rand der Gesellschaft muss die ganze Stadtgesellschaft durch öffentliche Information Bescheid wissen und diskutieren. Da reichen vereinzelte Aktionen nicht aus. Es wird nicht gelingen, diese Probleme wegzudrängen oder zu verdrängen.“
Rundschau: Wie soll denn der Diskurs mit sogenannten „Hatern“ oder mit Rechten und Rechtspopulisten funktionieren?
Lietzmann: „Das ist ein Problem. Denn die Erfahrung zeigt, dass es wenig nützt, mit diesen Menschen Diskussionen zu führen. Wir erleben das bei unseren Bürgerbeteiligungsverfahren, bei denen die Teilnehmer repräsentativ ausgewählt werden. Dabei sind diese Bürgerbeteiligungsgruppen sogar repräsentativer als die Gruppen, die zur Wahl gehen. Wer sich aber trotzdem kaum bei der Bürgerbeteiligung mitmacht, das sind die Rechten. Es liegt wohl daran, dass bei einer Bürgerbeteiligung intensiv diskutiert wird. Dort müssen Positionen mit guten Argumenten verteidigt werden. Es müsste aber gelingen, diese Menschen in diesen Diskussionsprozess hineinzuholen, damit auch dieser Teil der Bevölkerung aus seiner „Blase“ herauskommt und sich nicht in seiner Abgeschlossenheit immer weiter radikalisiert und erweitert. Den Wegdräng-Reflex der Anti-Nazismus-Gruppen jedenfalls finde ich falsch. Es gibt bei der Bürgerbeteiligung übrigens auch ein großes Problem mit manchen Migrantenfamilien, die sich nur schwer aus ihrer Isolation lösen. Auch hier gilt es, gute Angebote zur Teilnahme zu machen und einen begehbaren Weg für die Teilnahme zu realisieren. So muss für unterschiedlichste Gruppen in unserer sehr vielfältigen Gesellschaft ein gangbarer Weg gefunden werden. Es ist nicht einfach. Aber es nicht zu tun und sich mit der Zersplitterung abzufinden, ist keine Alternative. Dadurch wird alles nur noch schwieriger.“
Rundschau: Ist Wuppertal für einen Politikwissenschaftler und Soziologen ein besonderes Untersuchungsfeld?
Lietzmann: „Wuppertal ist in besonderer Weise Großstadt. Durch die Zerrissenheit des langen Tals und die hier besonders voneinander isolierten Ortsteile. Das macht den Zusammenhalt besonders schwierig. Aber eben auch besonders notwendig. In Wuppertal leben gleich mehrere „Parallelgesellschaften“ in besonders harter Trennung. Das gilt für Wichlinghausen ebenso wie für das Briller Viertel; für Heckinghausen ebenso wie für Ronsdorf, Cronenberg oder Dönberg. Und weil Wuppertal so wenig experimentell ist, tritt die Stagnation, die wichtige Innovationen behindert, besonders deutlich hervor. Da ist viel Mehltau, der sich bis in den Stadtrat fortsetzt.“