Nun hat das Team mit seiner Präzisionswaage erneut einen Weltrekord aufgestellt: Sie konnte erstmals messen, dass Neutrinos leichter als 0,45 Elektronenvolt (eV) sind – und übertrifft frühere Messungen damit deutlich. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forschenden nun in der aktuellen Ausgabe der renommierten Fachzeitschrift Science.
Neutrinos gehören zu den rätselhaftesten Teilchen des Universums. Sie sind allgegenwärtig, reagieren aber äußerst selten mit Materie. In der Kosmologie beeinflussen sie die Entwicklung großräumiger Strukturen, während sie in der Teilchenphysik aufgrund ihrer winzigen Masse als Indikatoren für bisher unbekannte physikalische Prozesse dienen. Die präzise Messung der Neutrinomasse ist daher essenziell für ein vollständiges Verständnis der fundamentalen Gesetze der Natur.
Genau hier setzt das KATRIN Experiment an, das am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) mit Partnern aus sieben Ländern durchgeführt wird. KATRIN nutzt den Beta-Zerfall von Tritium, einem instabilen Wasserstoffisotop, um die Neutrinomasse zu messen. Die Energieverteilung der entstehenden Elektronen erlaubt eine direkte Messung der Neutrinomasse. Um dies zu erreichen, sind hochentwickelte technische Komponenten notwendig: Das 70 Meter lange Experiment beherbergt eine intensive Tritiumquelle sowie ein hochauflösendes Spektrometer mit einem Durchmesser von zehn Metern. Diese Technologie ermöglicht eine bislang unerreichte Präzision bei der Messung der Neutrinomasse.
Auswertung der Daten
Die Qualität der ersten Datensätze seit dem Start der Messungen im Jahr 2019 konnte über die letzten Jahre kontinuierlich verbessert werden. „Wir haben fünf Kampagnen mit gut 250 Messtagen aus dem Zeitraum von 2019 bis 2021 analysiert – das entspricht etwa einem Viertel der insgesamt mit KATRIN erwarteten Datennahme“, erklärt Kathrin Valerius (KIT), eine der beiden Co-Sprecherinnen des Experiments. Susanne Mertens (Max-Planck-Institut für Kernphysik (MPIK) und Technische Universität München (TUM)) ergänzt: „In jeder Messkampagne haben wir dazugelernt und die experimentellen Bedingungen weiter optimiert.“
Die Forscherinnen und der Bergischen Universität Wuppertal (BUW) steuern zu dem 70 Meter langen Hightech-Aufbau ein besonderes Messinstrument bei: Es kann die Zerfallsrate von Tritium mit einer beeindruckenden Genauigkeit von einem Promille auf die Sekunde genau bestimmen. Doch das ist nur ein Teil der technischen Herausforderung erklärt Dr. Enrico Ellinger von der BUW: „Das Gerät muss in einem nahezu perfekten Vakuum arbeiten, bewegliche Teile präzise steuern – und das alles im starken Magnetfeld von Supraleitern und bei Temperaturen, die nur wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt liegen."
Außerdem arbeiten die Forscherinnen und Forscher in Wuppertal derzeit mit Hochdruck daran, Störsignale in den Messdaten zu beseitigen – sie entstehen durch hoch angeregte Atome innerhalb des Messaufbaus. Um diese Störquellen gezielt auszuschalten, setzen die Wissenschaftler auf eine innovative Methode: den Einsatz von Terahertz-Strahlung.
„Das ist eine völlig neue Technik, die wir gerade gemeinsam mit Spezialisten auf diesem Gebiet erforschen“, erklärt Prof. Dr. Klaus Helbing, Leiter der Wuppertaler Arbeitsgruppe Experimentelle Neutrinophysik. „Wenn es uns gelingt, diese Methode erfolgreich einzusetzen, kann KATRIN sein volles Potenzial entfalten.“
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler blicken optimistisch in die Zukunft: „Unsere Messungen zur Neutrinomasse werden noch bis Ende 2025 andauern. Durch die kontinuierliche Verbesserung des Experiments und der Analyse, sowie durch eine größere Datenmenge erwarten wir eine noch höhere Sensitivität – und möglicherweise bahnbrechende neue Erkenntnisse“, so das KATRIN-Team. Schon jetzt führt KATRIN das weltweite Feld der direkten Messung von Neutrinomasse an und hat mit den ersten Daten die Ergebnisse früherer Experimente deutlich übertroffen.
Das aktuelle Resultat zeigt, dass Neutrinos mindestens eine Million Mal leichter sind als Elektronen, die leichtesten geladenen Elementarteilchen. Diesen enormen Massenunterschied zu erklären, bleibt eine Herausforderung für die theoretische Teilchenphysik.