Kommentar zur Kindererziehung Hofreiter, Liebert und ich
Wuppertal · Am Montag schob Anton Hofreiter einen Kinderwagen durch den Bundestag. Den EU-Ausschuss leitete der Grünen-Politiker mit seinem 15 Monate alten Sohn auf dem Schoß. Ein Mann im Anzug mit Kinderwagen – Twitter lief heiß.
Auch ich empfinde das Bild als außergewöhnlich. Weil es ein Mann ist, der da mit Job und Kind jongliert. Eine Situation, die Schlagzeilen macht – und die für viele Frauen Alltag ist. Während der Pandemie habe ich Dutzende Mütter erlebt, die während Videokonferenzen Kinder auf dem Schoß hatten.
Ich habe gesehen, wie sie angestrengt ihren Vortrag weiter hielten, während an ihrer Bluse gezuppelt wurde und die Herren in der Runde milde lächelten. Ich selbst habe oft meine Tochter um mich herum wuseln gehabt, vor Konferenzen schnell noch Äpfelchen geschnitten in der flehenden Hoffnung, dass das Kleinkind so gut es geht mitmacht.
Während Corona, aber auch davor, habe ich aber bisher keinen einzigen Mann erlebt, der mit Babyphon in den Videocall oder mit Kinderwagen zum Termin kam. Denn die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist auch heute noch ein ganz überwiegend weibliches Thema.
Es ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die aber scheinbar nur Frauen zu meistern haben, die weibliche Gleichstellungsbeauftragte mit Autorinnen besprechen, um Müttern Arbeit und Familie gleichzeitig zu ermöglichen. Das führt zu flexiblen Arbeitsmodellen, aber auch zu gravierender Erschöpfung. Eine weitere Schlagzeile der letzten Tage: Die Pandemiefolgen für Mütter schätzt das Mütter-Genesungswerk als alarmierend ein.
Eine fatale Überbelastung, die auch heute noch meist auf Frauenschultern lastet. Denn junge Männer, gerade die, die wie Hofreiter beruflich erfolgreich sind, halten ihre Familie oftmals aus ihrer Arbeitswelt raus. Nicht weil sie schlechte Väter sind, sondern weil die Gesellschaft und die Arbeitgeber suggerieren, dass eben die oft „nur“ in Teilzeit arbeitenden Mütter dann auch alleine für die Kinderbetreuung zuständig sind. So funktioniert Karriere auch 2022 noch: männlich, fokussiert und bitte ohne Hindernisse wie Schnuller und Apfelschnittchen.
Und dann kommt am Montag der grüne Dr. Anton Hofreiter und bricht für einen Tag mit unserem seit Generationen geprägten und längst nicht überwundenen Rollenbild. Ein Auftritt, sicherlich strategisch und konzipiert. Und trotzdem mit Strahlkraft.
Wer übrigens in Wuppertal ein Vorbild für Familie und Beruf sucht, der findet ein weibliches. Anja Liebert hatte bereits vor 15 Jahren ihren Sohn im Kinderwagen mit im Stadtrat. Heute sitzt sie im Bundestag. Wie beispielhaft, auch für Männer.