Nach dem Ende der „Ampel“ Helge Lindh (SPD): „Stabilität anstatt Eskalation“

Wuppertal / Berlin · Wie haben die drei Wuppertaler Bundestagsabgeordneten aus den Regierungsparteien das Zerbrechen der Bundesregierung in Berlin erlebt? Die Rundschau-Redakteure Roderich Trapp und Stefan Seitz haben nachgefragt. Folge 1: Helge Lindh (SPD).

Helge Lindh.

Foto: Christoph Petersen

Rundschau: Wie haben Sie persönlich die „Ampel“ inhaltlich und atmosphärisch erlebt?

Lindh: „Außer ganz am Anfang, hat diese Koalition nicht praktiziert, was ,Koalition‘ eigentlich bedeutet. Nämlich gemeinsam zu entscheiden und gemeinsam zu verantworten, trotz aller unterschiedlichen Positionen, die es gibt. Die FDP hat sich vor allem auf die Kosten anderer profiliert. Wer selbst in der Regierung ist, wie die FDP, kann nicht hergehen und die Regierung ständig kritisieren. Doch alle müssen Selbstkritik üben: Wenn wir uns selbst so schlecht behandeln, muss man sich in Sachen Außenwirkung nicht wundern.“

Rundschau. Die Kommunikation innerhalb der „Ampel“ hat oft zerfahren und damit für die Öffentlichkeit abschreckend gewirkt ...

Lindh: „Ja. Die Kommunikation war selbstzerstörerisch. Das passt dazu, dass der Umgang miteinander zum echten Strukturproblem der letzten Jahre geworden ist. Mein Grundsatz ist: Es ist nicht im Sinne der Bevölkerung, Taktik und Kalkül vor Lösungsarbeit zu stellen. Die Leute waren und sind zu Recht enttäuscht über die Zersplittertheit der ,Ampel’. Das war maximal schlechte Eigenwerbung in Sachen Politik.“

Rundschau: Wie beurteilen Sie die Rolle von Kanzler Olaf Scholz?

Lindh: „Er ist mir oft vorgekommen wie ein Moderator, der in der Mitte eines Sandwichs eingeklemmt ist. Ständig als Mediator herhalten musste, um der öffentlich ausgetragenen Gegnerschaft Lindners und Habecks entgegenzuwirken. Lindner und, wenn auch mit Abstrichen, Habeck, haben nicht als Regierungsgemeinschaft agiert, sondern stets im Sinne ihrer eigenen Partei. Das hat letztlich allen geschadet.“

Rundschau: Sie urteilen hart über Ex-Finanzminister Christian Lindner.

Lindh: „Ich sehe es so, dass die FDP gar nicht erfolgreich regieren wollte, sondern es ihr nur darum ging, die anderen als die Schuldigen dastehen zu lassen. Lindner wollte als Parteichef agieren, nicht als Minister.“

Rundschau: Verkehrsminister Volker Wissing verließ die FDP, behielt aber sein Amt. Wie stehen Sie dazu?

Lindh: „Diese Entscheidung findet meine Zustimmung und meinen Respekt. Obwohl ich einige seiner politischen Positionen nicht teile: Volker Wissing hat verstanden, was es bedeutet, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Und dass es um zielorientierte Kompromisse geht, nicht um das Nebeneinanderher-Regieren und die Profilierung der eigenen Partei.

Wenn eine Koalition so endet wie diese jetzt, ist das nur Wasser auf die Mühlen derer, die Kompromisse ohnehin ablehnen. Es muss immer darum gehen, Stabilität anstatt Eskalation im Blick zu haben. Ohne politische Selbstdarstellung.“

Rundschau: Was ist jetzt vorerst ausgebremst?

Lindh: „Die Stärkung des Bundesverfassungsgerichtes, Kindergelderhöhung, steuerliche Entlastung der mittleren Einkommen, Korrekturen bei den Sozialkürzungen, und manches mehr. Bis all das weitergehen kann, wird ein halbes Jahr vergehen. Das bedeutet für viele Betroffene große Unsicherheiten.“

Rundschau: Welche Lehren ziehen Sie aus der „Ampel“?

Lindh: „In der Anfangsromantik sind erhebliche Interessenunterschiede unterschätzt worden. Es wäre wichtig gewesen, Konfliktfelder früh zu identifizieren und das Einende zu stärken. Wir brauchen eine stärkere Kultur der gemeinsam getragenen Verantwortung. Es geht darum, der Bevölkerung zu zeigen, dass da Menschen sind, die gemeinsam antreten und etwas auch gemeinsam verantworten. Und das gilt für alle.

Es zeigt sich allerdings, dass das zunehmend schwieriger wird. Trotzdem dürfen wir Politiker und Politikerinnen nie vergessen, dass wir der Bevölkerung gegenüber begründungspflichtig sind. Warum treffen wir bestimmte Entscheidungen? Das ist etwa in Sachen Corona-Politik zu sehr vernachlässigt worden. Das sage ich auch offen als SPD-Selbstkritik“

Rundschau: Sie treten erneut im Wahlkreis Wuppertal I an. Es wäre Ihre dritte Legislaturperiode, wenn Sie gewinnen. Würden Sie sagen, dass Ihre Erfahrungen während der „Ampel“ sich hier in Wuppertal besonders auswirken können?

Lindh. „Wuppertal ist wegen seiner spezifischen Struktur sozusagen ein Prüfstein, wo man live sehen kann, dass das Ausspielen von reinen Eigeninteressen nicht zu einem guten Ziel führen würde. Wer etwa die arbeitende Mitte bewusst gegen die Empfänger von Transferleistungen ausspielt, eine Gruppe von Menschen gegen die andere Gruppe von Menschen hetzt, agiert gesellschaftlich zerstörerisch.

Der Trumpisierung oder Social-Mediatisierung darf nicht das Feld überlassen werden. Es geht immer darum, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen, um Kompromisse zu finden. Im gegenteiligen Fall droht eine Gesellschaft der Parallelgesellschaften.“