Nach Toreschluss - die Wochenendsatire Oh (weh), Maria!
Wuppertal · „Es fährt ein Zug nach Nirgendwo, den es noch gestern gar nicht gab“ – das ist nicht der neue Werbeslogan der Deutschen Bahn, obwohl der ja ganz gut passen würde. Vielmehr handelt es sich um eine bekannte Textzeile aus dem Hit des Schlagersängers Christian Anders, der ihn 1972 auf Platz eins in den deutschen Charts brachte.
Passend zu seinem selbst erfundenen Nachnamen – der Mann heißt eigentlich Antonio Augusto Schinzel-Tenicolo – entwickelte sich sein Leben danach anders als bei anderen Menschen. Nachdem sein musikalisches Lebenswerk 1979 mit dem epochalen, jedoch nur bis auf 32 der Hitparade vorgestoßenen Song „Verliebt in den Lehrer“ chartplatzierungstechnisch viel zu früh endete, versuchte er es noch als Filmproduzent, Autor und Regisseur. Sein Erotikstreifen „Die Todesgöttin des Liebescamps“ wurde jedoch von der Kritik verkannt und kam auch bei den beiden Kinobesuchern wohl nicht so gut an.
Tief enttäuscht benannte sich Antionio Augusto Christian Schinzel-Anders danach noch einmal um, ließ sich einen Zopf wachsen und verbreitete fürderhin als Guru „Lanoo“ erstaunliche Enthüllungsgeschichten in Büchern und Videos. Darin soll es zum Beispiel darum gehen, dass Adolf Hitler Kommunist, Albert Einstein geistig behindert und Aids eine Erfindung der Weltgesundheitsorganisation war. Diese Auffassung teilten aber überraschend wenig Menschen, so dass der Guru am Ende mangels finanzieller Unterstützung durch einschlägige Anhänger am Ende war, nachdem offenbar auch sein Vermögen mit dem Zug nach Nirgendwo entschwand.
Das führte dazu, dass er auch heute, mit 74 Jahren, noch auftreten und singen muss, um warm essen zu können. Er bespielt dabei allerdings nicht mehr die Westfalenhalle, sondern vorzugsweise Einkaufsgalerien in Westfalen. Wenn man ihn denn lässt. Zuletzt war das mehrfach völlig zu Recht nicht der Fall, weil er sein esoterisches Wirken auch gerne mit antisemtischen Parolen verbindet. Nach öffentlichen Protesten fielen deshalb diese Woche Auftritte in Einkaufszentren in Hagen und Witten aus.
In Wuppertal durfte er dagegen vorgestern auftreten, weil offensichtlich mangels Werbung kaum jemand von dem Termin in der Rathaus Galerie wusste und sich darüber aufregen konnte. Natürlich hätte ihn auch die Rathaus Galerie selbst wieder ausladen können. Sie dürfte aber mit der Darbietung an sich gestraft genug gewesen sein.
Wir haben sie uns mal angesehen: Gekleidet in einen blonden Pferdeschwanz und eine rote Oversize-Knautschlederjacke, die schon 1972 unmodern gewesen wäre, versuchte sich der Barde auf karger Bühne zu scheppernder Musik vom Band an Textzeilen und Noten seines großen „Zug nach Nirgendwo“-Hits zu erinnern und stieß letztlich immer wieder ein verzweifeltes „Oh, Maria ...“ ins Mikrofon. Maria wurde daraufhin klirrend verzerrt von den Fensterfronten des angrenzenden Spielzeugladens zurückgeworfen und zerbrach – der großen Liebe im Song nicht unähnlich – auf tragische Art in den Ohren der meist weiblichen Zuhörer.
Nachdem der letzte schiefe Ton verklungen war, legte der etwas andere Schlagersänger noch ein paar tragische Sprungversuche hin, die möglicherweise auf seine Vergangenheit als Kampfkünstler hinweisen sollten, aber eher an den Versuch eines schweren Rheumatikers erinnerten, den berühmten Otto-Waalkes-Bühnenhüpfer nachzumachen.
In der letzten Zeile des Zugs nach Nirgendwo heißt es übrigens:
Oh Maria, du lässt mich gehen / Doch eine Träne in deinem Blick / Eine Träne, die hab’ ich gesehen / Willst du mir sagen, / komm doch zurück?
Also wegen mir muss das nicht sein ...
Bis die Tage!
Übrigens: Ich brauche das Geld zwar nicht so dringend wie Christian Anders, habe aber auch einen Auftritt in einem kleinen Einkaufszentrum: Am Dienstag, 29. Oktober, lese ich um 18 Uhr im „Ronsdorf Carrée“ an der Lüttringhauser Straße 22–24 ausgewählte Klassiker und neue Glossen aus der Rubrik „Nach Toreschluss“ im Rahmen der „LIT.Ronsdorf“ vor. Gleich zwei gute Nachrichten in diesem Zusammenhang: Der Eintritt ist frei, und ich werde garantiert nicht singen ...