Wuppertaler Schauspiel „Die Wahrheiten“: Wenn Macht Vertrauen frisst
Wuppertal · Zwei Ehepaare sind seit Jahren befreundet. Dann bekommt das eine Paar eines Abends eine plötzliche Handynachricht vom anderen Paar – sofortiger Kontaktabbruch. Diskussion unerwünscht.
Und jetzt geht es los auf der Bühne des Theaters am Engelsgarten, wo sich während pausenloser 105 Minuten eine Kaskade von Abgründen auftut. Was Paar Nr. 1, Bruno (Stefan Walz) und Sonja (Silvia Munzón López), sowie Paar Nr. 2, Erik (John Sander) und Jana (Maditha Dolle), in „Die Wahrheiten“ aneinander, miteinander und zwischen einander ent- und aufdecken, lässt keinen Stein auf dem anderen.
Das Stück aus der Feder des Autorenduos Lutz Hübner und Sarah Nemitz präsentiert sich in der Wuppertaler Schauspiel-Inszenierung von Johanna Landsberg als gnadenlos sezierende Beziehungspsychologie-Studie. Auf der Drehbühne, die das wirkliche Leben repräsentiert (Bühne: Johanna Rehm), begegnen sich die beiden Paare nie. Der Zuschauer erlebt stets nur, was Bruno und Sonja beziehungsweise Erik und Jana besprechen.
Von Minute zu Minute deckt dieses Stück verschüttete Vergangenheiten auf, schält Schicht um Schicht von einer gemeinsamen Geschichte, bei der einer der Haupt-Knackpunkte vier Jahre zurückliegt. Bei dieser Vivisektion kommen durch Manager-Machismo verursachte Missbrauchserlebnisse, ein uneheliches Kind, Vertrauensbrüche, komplett unterschiedliche Weltanschauungen, gegenseitiges Verschweigen und viele Facetten mehr ans Licht.
Das Stück heißt nicht von ungefähr „Die Wahrheiten“. Denn wer hier die Wahrheit weiß beziehungsweise darüber bestimmt, was wahr ist – da hängt der Hammer. Rasch wird klar: Macht zu beanspruchen und sich gegenseitig zu vertrauen, das funktioniert nicht. Die Männer, die übrigens auch „Kumpane“ sind, inszenieren sich vor allem als pragmatische „Problemlöser“. Sehr fatal im Fall von Erik, der ohne Rücksprache mit Jana die Handynachricht abschickt, mit der die Katastrophe beginnt.
Und die beiden Frauen? Ihre Wahrheiten und Geheimnisse funktionieren, so könnte man sagen, wie bei einem emotionalen Tauschgeschäft, um ihr gegenseitiges Vertrauen zu pflegen.
Was das Wuppertaler Schauspiel-Quartett hier zeigt, verdient großen Applaus. Und den gab es am Premierenabend auch satt. Die Klasse von Stefan Walz und Silvia Munzón López (die in der jüngsten Vergangenheit übrigens immer besser wird) erreichen die (jüngeren) John Sander und Maditha Dolle zwar nicht – aber das Ensemble liefert ein außergewöhnliches Kammerspiel.
Gelacht wird auch. Klar! Aber die Konzentration im Zuschauerraum ist spürbar. Kein Wunder. Worum es hier geht, kennt jeder, ob als Opfer oder als Täter: Wer Vertrauen entzieht, indem Wahrheiten unterschlagen werden, öffnet das Tor zu einem Teufelskreis. Ein unverschämt lebensechter Theaterabend.