Neueinstudierung in Wuppertal „Viktor“ von Pina Bausch: Fliegende Frauen, rieselnde Erde

Wuppertal · 1986 wurde „Viktor“ von Pina Bausch uraufgeführt. Eine andere Zeit damals. Und Rom, wo das knapp über dreistündige Stück „spielt“, ist eine andere Stadt gewesen. Jetzt gab es im Opernhaus die 2024er-Neueinstudierung. Ein noch immer berührender Bilderbogen.

 Männer – anders als üblich: Milan Nowoitnick Kampfer, Alexander López Guerra und Dean Biosca.

Männer – anders als üblich: Milan Nowoitnick Kampfer, Alexander López Guerra und Dean Biosca.

Foto: Ursula Kaufmann

Dunkel ist der Bühnenraum, um geben von hohen Erdwällen, von denen diese Erde ständig hinabgeschaufelt wird. Ein Rieseln wie das Vergehen der Zeit.

Apropos Zeit: Alle miteinander rauchen sie „ununterbrochen“ – 1986 ist lang her. Manches würde man (wahrscheinlich) heute nicht mehr so machen wie damals. Anderes – und zwar die Mehrheit der Szenen – bleibt zeitlos, findet eben darum unverändert den Weg durchs Auge ins Herz.

Junge Ensemblemitglieder und ältere harmonieren sehr gut. Was im Gedächtnis bleibt: Michael Strecker mit großer Geduld als Postkartenverkäufer im Publikum unterwegs, die große Julie Shanahan, die keinen Deut ihrer Bühnenpräsenz eingebüßt hat – und Julie Anne Stanzak ebensowenig. Außerdem sehr intensiv: Luciény Kaabral, Maria Giovanna Delle Donne, Aida Vainieri – sowie Tsai -Wei Tien in ihrer ganzen Anmut. Unbedingt aufsehenerregend aber Emily Castelly, die erst seit Sommer vergangenen Jahres beim Ensemble ist, in der „Viktor“-Titelrolle. So stark!

Wie alle Pina-Bausch-Stücke erzählt „Viktor“ ganz viele Geschichten. Aus einer verrückten Stadt wie Rom. Aber vor allem von Männern und Frauen – von der Sehnsucht nach Zärtlichkeit, von der Liebe (der unmöglichen, aber nicht immer), von Anziehung und Abstoßung. Die Gesten und Bewegungen machen dieses menschliche Kaleidoskop sichtbar. Wenn Julie Anne Stanzak in einer Beziehungsdiskussionssituation den unvergesslichen Satz „Ich fühle mich neben dir wie ein Bügelbrett“ spricht, kann man es hören.

Pina Bausch – das sehr gut gemachte Programmheft verrät es – wünschte sich „fliegende Frauen“. Und so schwingen sie an Turnerringen. Das ist so ein ikonischer Pina-Bausch-Moment. Oft ist das Ensemble im Publikum unterwegs, flächige Groß-Choreographien quer durch den Raum oder auf einer Stuhlreihe sind zu erleben, Gespräche, Erzählungen, der Alltag – mal absonderlich, mal herzzerreißend, mal witzig. Dazu Musik, deren Bogen sich von der Klassik über die 30er Jahre und das ganze Italien bis nach Bolivien spannt. Letztere hat sogar das Potenzial zu verstören.

„Viktor“ 2024. Was soll ich sagen? Alle zusammen haben sie bewiesen: Pina Bauschs Erbe lebt. Ganz und gar.