Bergische Uni „Unsere Welt besser verstehen“
Wuppertal · Die französische Historikerin Dr. Élise Julien ist Expertin für deutsch-französische Beziehungen und lehrt seit Oktober 2021 als Gastdozentin an der Bergischen Universität Wuppertal. In einer aktuellen Online-Veranstaltungsreihe widmet sie sich den im April anstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Im Interview blickt die Wissenschaftlerin unter anderem auf das Wahlkampfgeschehen und wie es von den aktuellen Geschehnissen in der Ukraine beeinflusst wird.
Die Wahlen in Frankreich fallen in eine herausfordernde Zeit. Wie wirkt sich der Ukraine-Krieg auf den Wahlkampf um die Präsidentschaft aus?
Julien: „Die französischen Wahlen werden in der Tat in einer herausfordernden Zeit stattfinden, was allerdings nicht nur auf den Ukraine-Krieg zurückzuführen ist. In der fünfjährigen Amtszeit von Emmanuel Macron herrschte zwei Jahre lang eine beispiellose Pandemie, die trotz der Lockerungen der Schutzmaßnahmen in Frankreich leider noch nicht vorbei ist. Es kam außerdem zu bedeutenden sozialen Krisen mit großen Protestbewegungen, wie die der Gelbwesten oder die gegen die Regierungsreform über das Rentensystem. Darüber hinaus zeigte sich der kritische Zustand manch öffentlicher Einrichtung wie Krankenhäuser oder Schulen, von denen immer mehr verlangt wurde. Schließlich stellte der russische Angriff auf die Ukraine die diplomatische, militärische sowie humanitäre Reaktionsfähigkeit der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsländer wie Deutschland und Frankreich in Frage.
Die Präsidentschaftswahlen sollten die Gelegenheit bieten, Bilanz zu ziehen und viele für die Zukunft wichtige Fragen zu diskutieren. Doch bringt die aktuelle Ukraine-Krise den Wahlkampf durcheinander: Es herrscht verständlicherweise die Frage vor, wie man sich gegenüber Putins Russland verhalten soll. Dies führt einerseits dazu, dass Politiker*innen fast aller Richtungen zusammenkommen, was sonst selten vorkommt. Es führt andererseits aber dazu, dass die Debatte über die anderen Fragen, die die Französinnen und Franzosen bei der Wahl eines Staatspräsidenten oder einer Staatspräsidentin interessieren könnten, ausgesetzt wird.“
Aktuell bieten Sie eine Veranstaltungsreihe rund um die Wahlen an. Können Sie kurz zusammenfassen, wie das Format funktioniert und worum es bei den drei noch ausstehenden Zoom-Sitzungen geht?
Julien: „In der Online-Reihe ,Was Frankreich bewegt‘ geht es darum, die Hintergründe und Herausforderungen der französischen Präsidentschaftswahl für ein deutsches Publikum zu erläutern. Dies findet bis zum Wahlausgang in vier Folgen statt. Jedes Mal sprechen ein bis zwei Expertinnen und Experten. Nach einem kurzen Impulsvortrag werden jeweils die Fragen des Publikums beantwortet bzw. diskutiert.
Am 14. März haben wir eine Einführung in das französische Wahlsystem angeboten: sein Funktionieren, seine Besonderheiten und die politischen Auswirkungen. Gerade wird ein Video-Podcast erstellt, sodass man diese Veranstaltung (sowie bald auch die nächsten) „nachholen“ kann.
Am 28. März werden wir uns dem Feld der Kandidatinnen und Kandidaten widmen. Amtsinhaber Macron hat zahlreiche Mitbewerberinnen und Bewerber – sowohl von rechts als auch von links – mit ganz unterschiedlichen Profilen. Es wird um ihre Politik und um ihre Chancen gehen.
Am 11. April wollen wir aus dem ersten Wahlgang Schlüsse ziehen. Dazu möchten wir die zwei für die Stichwahl verbliebenen Kandidatinnen und Kandidaten näher vorstellen, ihre Programme vergleichen und die zu diesem Zeitpunkt herrschenden Machtverhältnisse analysieren.
Am 25. April wird Frankreich gewählt haben. Einen Tag nach der Stichwahl wollen wir das Ergebnis diskutieren und in die Zukunft blicken. Für was steht der neue Amtsinhaber oder die neue Amtsinhaberin? Welche Konsequenzen hat der Wahlausgang für Frankreich, die deutsch-französischen Beziehungen und Europa?“
Auch im kommenden Sommersemester werden Sie an der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften lehren. Was bedeutet Ihnen die Gastdozentur in Wuppertal und worauf wird der Fokus Ihrer Veranstaltungen liegen?
Julien: „Die Gastdozentur ,Simone Veil‘ in Wuppertal ist für mich eine großartige Gelegenheit, meine Verbindungen zur deutschen akademischen Welt zu vertiefen. Seit meiner Doktorarbeit an der Freien Universität Berlin hat mich das Interesse an deutsch-französischen Fragen nicht losgelassen, weder in der Forschung noch in der Lehre. Eine Dozentur bedeutet eine Integration und eine wertvolle Sozialisierung an einer deutschen Universität.
Meine Dozentur ist im Fach Romanistik angesiedelt: Da habe ich das Vergnügen, mit Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Disziplinen wie Literatur und Geschichte zusammenzukommen und gemeinsame Initiativen zu gestalten. Darüber hinaus genieße ich die Freiheit, Veranstaltungen zu organisieren, die von Filmreihen bis hin zu politischen Begegnungen reichen und die auch auf das Interesse von Kolleginnen und Kollegen und Studierenden der Politikwissenschaft, Soziologie oder Philosophie stoßen können.
Was die Lehre angeht, konzentriere ich mich auf Frankreich und die deutsch-französischen Beziehungen, wobei ich ein breites Spektrum an Themen abdecke. Meine Dozentur unterstützt insbesondere den binationalen Studiengang ,Angewandte Kultur- und Wirtschaftsstudien: Deutsch-Französisch‘ zwischen der BUW und der Universität Besançon. Meine Lehrveranstaltungen verstärken übrigens das Kursangebot in französischer Sprache, was für Studierende der Romanistik eine große Chance darstellt. In Seminaren biete ich eher fächerübergreifende Themen wie ,Kriegsausgang und Versöhnung‘ oder ,Geschichtsbewusstsein und Vergangenheitsaufarbeitung‘ an.“
Wie sehr wird Ihre Lehre im kommenden Semester inhaltlich unter dem Einfluss der aktuellen Geschehnisse in der Ukraine und Europa stehen?
Julien: „Als Historikerin sehe ich meine Aufgabe weniger darin, aktuelle Geschehnisse zu kommentieren, als vielmehr den Studierenden Analyseschlüssel zu liefern, damit sie diese besser verstehen können. Dies gilt in erster Linie für Frankreich und Deutschland, aber natürlich auch für Europa und in gewissem Maße für internationale Ereignisse.
Im kommenden Semester wird mein Kurs ,Frankreich: Kultur und Landeskunde‘ unter anderem auf das aktuelle politische, soziale und kulturelle Geschehen in diesem Land eingehen, auch angesichts der möglichen neuen Lage nach den Präsidentschaftswahlen.
Ergänzt wird dies durch einen Kurs über die deutsch-französischen Beziehungen in Europa aus einer historischen Perspektive. Die deutsch-französische Kooperation in den Bereichen Verteidigung, Diplomatie oder Sicherheit entspricht zum Beispiel Ambitionen, die bis in die 1950er Jahre zurückreichen. Nur durch eine breite Perspektive kann man deshalb aktuelle Divergenzen in Bezug auf die Energiepolitik oder militärische Investitionen verstehen sowie die Ursprünge des Normandie-Formats erklären.
Schließlich werde ich ein Seminar anbieten, das sich dem Verhältnis zur Vergangenheit und zur Geschichte widmet. Der Gebrauch, den gerade die Kandidatinnen und Kandidaten von der Geschichte machen, ist zum Beispiel sehr aufschlussreich für die Ängste und Hoffnungen in der französischen Gesellschaft. Diese Frage erhält eine besondere Brisanz, wenn man an den Missbrauch der Vergangenheit und die Umschreibung der Geschichte denkt, die Putin für die Rechtfertigung seiner Invasion in der Ukraine betreibt.
Die Themen meiner Lehrveranstaltungen musste ich schon vor einigen Monaten angeben. Die aktuellen Geschehnisse bestärken mich in der Ansicht, dass die Lehre der Geistes- und Kulturwissenschaft über den spezifischen Kontext hinaus nützlich ist, um unsere Welt besser zu verstehen.“