Heilpraktikerin Melanie Reißig Tipps gegen Corona-Frust: „Feiern Sie sich selbst!“
Wuppertal · Melanie Reißig ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und Trainerin für Positive Psychologie. Sie leitet in Barmen das „Zentrum für entspanntes Lernen“. Das Institut bietet Ausbildungen und Seminare im Bereich Kommunikation, Positive Psychologie, Traumatherapie, Systemik, Kindercoaching an. Mit Rundschau-Redakteurin Nina Bossy sprach sie über die Herausforderungen und Chancen der Corona-Pandemie.
Rundschau: Eines der größten Probleme während der Kontaktbeschränkungen ist wohl die Einsamkeit. Was macht dieses Gefühl mit uns über eine lange Zeit? Und was können wir dagegen tun?
Reißig: „Einsamkeit macht uns krank. Aus Experimenten mit Babys weiß man, dass Einsamkeit uns sterben lässt. Umso wichtiger ist es nun, sich nicht zu vergraben. Nutzen Sie den einen Kontakt oder die eine Familie, die man treffen darf. Greifen Sie wieder öfter zum Telefonhörer, probieren Sie Skype, Zoom usw. aus, schreiben Sie mal wieder einen Brief. Ganz wichtig ist, dass wir nicht in der Einsamkeit versinken. Es liegt immer in unserer Hand, wie wir mit äußeren Situationen umgehen. Wir können jammern und in ein Loch fallen oder uns selbst am Kragen packen und positiv denken. Ich glaube, dass hierbei auch der Gedanke eine Rolle spielt, dass es nicht für immer ist und dass wir im Grunde in einem sicheren Land leben. Manchmal hilft tatsächlich so etwas wie Demut und Dankbarkeit, um sich selbst wieder in einen guten Zustand zu bringen. Ich habe genug zu essen, ein Dach über dem Kopf und ich bin gesund. Außerdem empfehle ich die Online-Angebote, die es für Sport und Entspannung gibt, auf jeden Fall zu nutzen. Es bringt uns in Bewegung, baut Routinen auf und hält uns in Kontakt.“
Rundschau: Selbst wenn wir miteinander telefonieren, skypen – die Umarmungen fehlen. Sind Berührungen für ein empathisches Miteinander wichtig? Wie können wir diese Lücke füllen?
Reißig: „Ja, Berührungen, Umarmungen sind total wichtig. Aber ein erwachsener, einigermaßen resilienter Mensch kann das eine Zeitlang kompensieren. Und viele von uns haben ja einen Partner und Familie, so dass ein wenig Nähe immerhin möglich ist. Kinder sollten auf keinen Fall drauf verzichten, aber zum Glück leben ja viele Kinder bei ihren Eltern und bekommen – so hoffe ich – die nötigen Umarmungen. Und wenn keine menschliche Nähe möglich ist, helfen zum Beispiel Tiere. Denn wenn wir einen Hund oder eine Katze streicheln, wird das gleiche Glückshormon im Gehirn ausgeschüttet wie bei einer Umarmung. Und wenn Sie kein Tier haben, finden Sie vielleicht bei einem Spaziergang eine Koppel mit Pferden, die sich gerne berühren lassen.“
Rundschau: Was sehen Sie derzeit als die größte Herausforderung?
Reißig: „Ich glaube, die größte Herausforderung ist es, nicht in Frust zu verfallen. Im ersten Lockdown waren viele Menschen noch motiviert im Garten und im Haus etwas zu machen, es war Frühling, Neuanfang, das Wetter war gut. Viele haben draußen Sport gemacht und die Zeit genutzt. Jetzt ist es anders, es dauert schon so lange, viele kommen an ihre wirtschaftlichen Grenzen. Einige sind genervt von den Maßnahmen, viele sehen es nicht ein, Verschwörungstheorien bringen Unruhe und nun wird auch noch das Wetter schlechter. Unsere größte Herausforderung ist es jetzt darauf zu achten, dass die Stimmung nicht kippt, im Kleinen, bei jedem Einzelnen sowie in der Gesellschaft. Und dazu ist es meiner Meinung nach ganz wichtig, bei uns selber anzufangen. Wir können ja weder am Lockdown noch an der Pandemie an sich etwas ändern. Dinge hinzunehmen und nicht drüber zu meckern, wäre ein erster Schritt. Deswegen ist es so wichtig, trotz allem immer wieder zu erkennen, was gut im eigenen Leben ist, wofür man dankbar ist. Und gleichzeitig auch darauf zu achten, dass man nicht mental und körperlich in einen Sumpf fällt. Auch wenn wir nicht arbeiten gehen können, können wir morgens aufstehen, am Tisch essen, uns schön anziehen, uns pflegen und auf uns achten. Feiern Sie sich selbst.“
Rundschau: Alleinstehende, Senioren, Familien. Jede Lebenssituation hat derzeit eigene Schwierigkeiten, sich zurecht zu finden. Haben Sie einen Tipp, der jedem in jeder Lage das Leben während der Pandemie leichter macht?
Reißig: „Ein ganz praktischer Tipp wäre, jeden Tag drei Erlebnisse aufzuschreiben, die schön waren. Das Eichhörnchen vor dem Fenster, die Sonne, das schöne Buch. Wenn wir trainieren, unseren Fokus auf das Positive zu lenken, bleiben wir resilienter, gesünder und fallen auch nicht so leicht in einen depressiven Zustand. Allerdings braucht das Gehirn dafür Regelmäßigkeit und mindestens drei Monate täglichen Trainings. Wer dennoch das Gefühl hat, nicht mehr standhalten zu können, sollte sich Hilfe holen. Ein Anruf beim Sorgentelefon oder der Depressionshotline kann helfen oder das Gespräch mit Freunden, einem Arzt. Das Gleiche gilt für Familien – hier nicht die Einsamkeit, sondern das permanente Zusammensein ist der Ausnahmezustand. Eltern, die das Gefühl haben, sie werden den Kindern nicht mehr gerecht oder sie verlieren die Geduld und die Nerven, sollten sich um Hilfe holen. Der Kinderschutzbund, das Jugendamt, das Sorgentelefon, Caritas oder Diakonie stehen hier hilfreich zur Seite.“
Rundschau: „Für diejenigen, denen der Lockdown nicht so schwer fällt: Wie können solche andere Menschen unterstützen?
Reißig: „Gerade um ältere und einsame Menschen sollten wir uns jetzt besonders kümmern. Rufen Sie die Oma einmal mehr an. Gehen Sie für die ältere Nachbarin einkaufen, erklären Sie dem älteren Herrn von nebenan, wie Skype funktioniert. In den Sozialen Medien gibt es viele Aktionen, an denen sich jeder beteiligen kann. Vielleicht nehmen Sie Musik auf und stellen es online, lesen eine Geschichte im Netz vor oder schreiben einfach an alle Bekannten Postkarten.“
Rundschau: Und irgendwann ist alles vorbei. Wie wird diese Erfahrung uns Menschen verändern, als Individuum und als Gesellschaft?
Reißig: „Jede große Katastrophe hat die Menschheit immer verändert und ihr auch bei ihrer Weiterentwicklung geholfen. Wir leben heute mit all unseren Errungenschaften, weil wir uns nicht trotz der Schwierigkeiten sondern durch die Schwierigkeiten weiterentwickelt haben. Wir nennen das posttraumatisches Wachstum. Hinter jedem Problem steckt auch eine Chance. Nach dem letzten Lockdown zum Beispiel haben wir schon gemerkt, dass die Umwelt sich erholt. Wahrscheinlich werden wir erst in einigen Jahren erkennen, wie wir und die Gesellschaft sich verändert habem. Vielleicht werden wir demütiger und achtsamer sein, im Umgang mit uns, unseren Mitmenschen und der Umwelt. So wenig schön im Moment auch alles ist, ist es ganz wichtig durchzuhalten, Hoffnung zu spüren und uns auf unseren positiven Ressourcen zu besinnen.“