Seenotrettung auf dem Mittelmeer Helge Lindh: „Das ist ein moralischer Bankrott“

Wuppertal · Der Wuppertaler SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh setzt sich seit Monaten für eine funktionierende EU-Lösung in Sachen Flüchtlings-Seenotrettung ein. Jetzt war er zum zweiten Mal kurz auf Malta. Rundschau-Redakteur Stefan Seitz sprach mit Lindh.

Helge Lindh im Berliner Paul-Löbe-Haus.

Foto: Christoph Busse

Rundschau: Wo brennt es am schlimmsten?

Lindh: Ich finde es unerträglich, dass immer noch kein klares Verfahren der EU-Staaten existiert, wie mit Mittelmeerflüchtlingen umzugehen ist. Es ist ganz klar, dass nicht jeder, der flieht, Anspruch auf Asyl hat. Es geht aber darum, dass die Menschen nicht ertrinken. Seit der Debatte um „El Hiblu“ und dem totalen Stopp des Schiffseinsatzes im Rahmen der EU-Mission „Sophia“ muss jedes normale Handelsschiff, das schiffbrüchige Menschen aufnimmt, Angst haben, als Schlepperboot diffamiert und in keinen Hafen mehr gelassen zu werden. Außerdem werden private Hilfsorganisationen bedrängt und kriminalisiert.

Rundschau: Malta und Italien sind erste „Anlaufstellen“, und beide haben zuletzt mehrfach „Nein“ gesagt.

Lindh: Italien weigert sich kategorisch, Malta bedingt, Mittelmeerflüchtlinge aufzunehmen. Also bliebe nur noch Libyen, aber dort herrscht Bürgerkrieg. Malta hat nur rund 400.000 Einwohner und fühlt sich alleingelassen. Das ist ja auch völlig nachvollziehbar.

Rundschau: Was müsste passieren, um aus der Endlosschleife herauszukommen?

Lindh: Zum Beispiel müsste eine finanziell gut ausgestattete offizielle Organisation zur Seenotrettung her. So wie auch die „Frontex“-Grenzschützer ja bestens ausgestattet sind.

Rundschau: Und wenn die Menschen irgendwo an Land gekommen sind?

Lindh: Dann braucht es eine verlässliche Zahl von EU-Ländern, die sagen: Wen beispielsweise Malta aufnimmt, der wird weiterverteilt. Und zwar auch die, die keine gute Bleibeperspektive haben. Deutschland zum Beispiel nimmt nur auf, wenn die Anerkennungswahrscheinlichkeit bei über 50 Prozent liegt. Auf Malta sitzen viele, viele Menschen fest, die weder vor noch zurück können. Auf dieser kleinen Insel sieht man das ganze Problem wie unter einem Brennglas. Wenn Europa es schon hier nicht schafft, eine Lösung zu finden, wie soll das dann im Großen gelingen? Wir können die Leute doch nicht auf dem Wasser lassen! An den Menschen auf den Booten wird die ganze bittere Problematik ausgekungelt.

Rundschau: Die Regierungen zeigen sich hart. Entspricht das auch der Haltung der Menschen in den jeweiligen Ländern?

Lindh: Die italienische Regierung will gar niemanden mehr aufnehmen. Viele italienische Städte aber sehr wohl. Das gilt auch für Deutschland. Es gäbe genug Kommunen, die insgesamt 2.000 bis 3.000 Leute aufnehmen würden. Inwiefern Wuppertal dabei wäre, bleibt abzusehen. Die bergischen Oberbürgermeister haben sich grundsätzlich mit der Idee der Seenotrettung solidarisiert. Aufnahmewillige Städte müssten dann aus Berlin und Brüssel finanziell „belohnt“ werden. Und es müsste einen realistischen, offiziellen Verteilschlüssel geben.

Rundschau: Die Stimmung für Bootsflüchtlinge ist nicht besonders gut.

Lindh: Nein. Hass, Unwissen und Angstmache haben Konjunktur. Dagegen muss Positives gesetzt werden. Aber die aktuelle jedesmalige Telefondiplomatie nach dem Motto „Ich nehme fünf, dann nimmst du aber auch mindestens vier“ ist keine Werbung für den Europa-Gedanken.

Rundschau: Ihre Einschätzung der aktuellen Situation?

Lindh: Auf jedes gerettete Boot kommen zwei oder drei, die untergehen. Alle wissen das, und warten trotzdem einfach auf die große europäische Lösung. Dass die kleine wie auch die große nicht funktionieren, ist ein moralischer Bankrott. Allen, die Hilfsorganisationen kriminalisieren, sei gesagt: Menschen ertrinken zu lassen, ändert nichts an den Fluchtursachen und damit nichts an den Flüchtlingsströmen. Aber Menschen ertrinken zu lassen, das ist unwürdig für unser Europa.