Bilanz des Corona-Jahres 2020 Die Telefonseelsorge ist gefragter denn je

Wuppertal · Pfarrerin Jula Heckel-Korsten ist seit Herbst 2019 Leiterin der Telefonseelsorge Wuppertal. Im Interview blickt sie auf das Corona-Jahr 2020 zurück, zieht Bilanz und schaut voraus.

Pfarrerin Jula Heckel-Korsten ist Leiterin der Wuppertaler Telefonseelsorge.

Foto: Tim Polick

Frau Heckel-Korsten, hat die Corona-Pandemie zu einem erhöhten Gesprächsbedarf gesorgt?

Heckel-Korsten: „2019 führten wir 11.339 Seelsorgegespräche. 2020 waren es 12.300. Der Anstieg ist deshalb nicht so hoch wie vielleicht erwartet, weil wir auch vor der Pandemie eine fast ausgelastete Leitung hatten und daher nicht viel mehr Gespräche annehmen konnten als vorher. Um einen Dienstplan rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr in vier Tagschichten und einer Nachtschicht besetzen zu können, sind 75 ehrenamtlich Mitarbeitende erforderlich, die sich abwechseln. Manche sind aus persönlichen Gründen eine Zeit lang beurlaubt, andere gerade erkrankt. Deshalb kann unsere Dienstelle nicht einfach eine zweite Leitung eröffnen und zuverlässig besetzen. Die Anzahl der Versuche, die Ratsuchende unternehmen mussten, um ein Seelsorgegespräch mit der TS Wuppertal führen zu können, ist daher während der Pandemie gestiegen. Manchmal müssen Anrufende etwas Geduld haben und öfter wählen als sonst, um durchzukommen.“

Was waren die Hauptthemen?

Heckel-Korsten: „Im Jahr 2020 drehten sich elf Prozent der Gespräche hauptsächlich oder in einem Teil um Corona. Vor allem im Zusammenhang mit Ängsten und familiären Beziehungen. Konflikte in der Familie oder im Bekannten- oder Freundeskreis, die durch die Corona-Bedingungen ausgelöst waren, waren häufig Thema. Angehörige so genannter Risikogruppen klagten über ,Zwangsschützung‘ durch ihre Kinder und Enkel, die zum Beispiel anordneten, dass sie ab jetzt für ihre alten Eltern einkaufen würden und nicht duldeten, dass diese vor die Tür gingen, um sich nicht anzustecken. Oder dass Besuche nicht mehr stattfänden. Die Betroffenen wurden nicht nach ihrer eigenen Einschätzung gefragt. Durch diesen neuen Themenkomplex Coronav-Virus stieg die Zahl der Gespräche, die sich um Ängste drehten zeitweise auf 20 Prozent, auch der Anteil der Anrufenden, die in depressiver Stimmung anriefen, erhöhte sich deutlich in den Monaten des Lockdowns.“

Wer ruft hauptsächlich an?

Heckel-Korsten: „65 Prozent der Anrufenden waren alleinlebend, das ist immer so. Aber familiäre Beziehungen kamen 2020 häufiger zur Sprache als gewöhnlich. Das Thema Einsamkeit steigt seit Jahren kontinuierlich an. Dieser Trend wurde durch die Pandemie natürlich verstärkt. Wir konnten beobachten, wie auch normalerweise gut integrierte Anrufende sich einsam fühlten, weil ihre Kontaktmöglichkeiten wegfielen. Menschen in Einrichtungen wie Altenheimen und Betreutem Wohnen riefen uns häufiger an, weil Besuch ausblieb und Pflegekräfte überlastet waren und noch weniger Zeit hatten als sonst.“

Welche Tendenz beobachten Sie?

Heckel-Korsten: „Der Anteil der Anrufenden, die uns mehrfach oder regelmäßig anrufen, weil wir einer der wenigen oder gar der einzige Kontakt für sie sind, ist im Jahr 2020 gestiegen. Zeitweise waren es drei Viertel aller Anrufer, die sagten, dass sie schon einmal angerufen hätten. Daran wird die Bedeutung unseres Angebots für diesen Personenkreis deutlich. Ein großer Anteil von ihnen hat noch mehr als in Vorjahren unter Einsamkeit gelitten. Es erreichten uns auch mehr Anrufe von berufstätigen Menschen als sonst, weil die Arbeitsbedingungen schwieriger geworden sind und die Angst um den Arbeitsplatz bzw. der Verlust desselben häufiger vorkam als im Vorjahr. Auch mehr jüngere Menschen, die Kinder zu Hause betreuen mussten und dabei das Homeoffice stemmen, riefen uns an. Die Telefonseelsorge konnte ihnen ein offenes Ohr für ihren Stress bieten. Es ging meist um momentane Entlastung. Darum, die Erschöpfung und Frustration ungeschützt ausdrücken zu können, ohne dass es Folgen hat. Die Telefonseelsorgenden hielten das aus und gaben Resonanz auf die Belastung und gaben Anerkennung für das Geleistete, die sonst nicht ausreichend gewährt wurde. Wohltuend ist ja oft schon, wenn ein anderer Mensch anerkennt: Da haben Sie aber wirklich viel zu tragen und ich bewundere Sie dafür, dass Sie es aushalten.“

Die Krisenkompass-App der Telefonseelsorge gibt es inzwischen ein Jahr.

Foto: Telefonseelsorge

Wie erfolgreich ist Ihre Arbeit?

Heckel-Korsten: „Ändern und ,helfen‘ können wir am Telefon in der Regel nicht. Aber der Tag eines Menschen ist verändert, wenn jemand eine Zeitlang wirklich interessiert zugehört hat und er sich verstanden fühlt. Im Alltag erleben Menschen oft, dass sie Stichwortgeber für ihr Gegenüber sind und andere ihre Erzählungen nur dazu benutzen, um das Eigene loswerden zu können. Oder entgegen: ,Das ist ja gar nichts. Bei mir...“ Oder dass die Alltagskontakte die sich oft über lange Zeit wiederholenden Klagen über Unabänderliches oder Kränkendes nicht mehr hören wollen, der Druck davon zu erzählen, aber groß ist. Angesichts solcher Erfahrungen hat ein Seelsorgegespräch, bei dem es nicht darum geht, sich zu verändern, sondern zu verstehen, einen hohen Stellenwert. Nicht nur während der Pandemie …“

Welche Tendenz beobachten Sie?

Heckel-Korsten: „Noch mehr Menschen als sonst nannten eine psychische Erkrankung während des Gesprächs. Es gab Steigerung um 10 Prozent auf fast 30 Prozent aller Anrufenden. Somit war die Rolle der Telefonseelsorge im Jahr 2020 mehr als zuvor die der psychosozialen Versorgung. Nur leider beteiligen sich die Krankenkassen nicht an der Finanzierung! Suizidalität spielte in 13 Prozent der Anrufe einer Rolle entweder in Gestalt von Selbsttötungsgedanken, von konkreten Absichten, einem früheren Suizidversuch oder der Betroffenheit durch die Selbsttötung eines nahen Menschen. Das ist ein ähnliches Niveau wie in den Vorjahren. In allgemeinen gesellschaftlichen Krisen ist häufig zu beobachten, dass die Anzahl der Suizide eher sinkt als steigt. Die Wahrnehmung, nicht der einzige Mensch zu sein, dem es gerade schlecht geht, hilft Menschen mit Depressionen und psychischen Problemen ihre eigene Situation zu ertragen. Wir sprechen bewusst nicht von ,Selbstmord‘, weil Mord niedere Motive zur Ursache hat. Auch nicht von „Freitod“, weil Menschen in einer suizidalen Krise fast immer eingeengt sind in ihrer Wahrnehmung und keine freie Wahl treffen. Oder eine psychische Erkrankung ist Ursache dafür, dass sie keinen anderen Ausweg sehen als den Tod. Meist geht es darum, dieses Leben nicht mehr führen zu wollen und nicht darum, sterben zu wollen. Oft äußert sich diese Lebensmüdigkeit in Sätzen wie ,Ich kann nicht mehr‘ oder ,Ich bin am Ende‘ und Menschen sind froh, wenn am anderen Ende jemand fragt: ,Kann das sein, dass Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen?‘ Jemand, der das Thema aushält, nicht schnell abwiegelt oder Sprüche wie ,Das wird schon wieder‘ von sich gibt.“

Welche Ziele haben Sie sich gesetzt?

Heckel-Korsten: „Für Menschen Anlaufstelle zu sein, die am Ende sind, ist der Ursprung der Telefonseelsorge. Es kann aber auch jeder Mensch anrufen, der sich alleine fühlt und ein Gegenüber braucht, das sich für ihn oder sie interessiert, zuhört und ein wenig bei ihm oder ihr bleibt. Auch das ist zurzeit für viele nötiger denn je, da fast alle Möglichkeiten der Betätigung wegfallen, die Ablenkung und Sinngebung bieten. Ein gutes Gespräch geführt zu haben, kann dem Leben für diesen Tag einen Sinn geben. Und es lässt sich ja nur so Tag zu Tag leben …“