Bergische Uni Wuppertal Wenn das Böse verliert, fühlen wir uns wohl
Wuppertal · Ein Interview mit Dr. Stefan Neumann von der Bergischen Uni Wuppertal über die Bedeutung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm.
Herr Neumann, Generationen von Kindern sind mit Grimms Märchen groß geworden. Wie sieht es denn heute aus? Funktionieren die Märchen im Zeitalter der Digitalisierung eigentlich noch?
Neumann: „Ich würde sagen, besser denn je. Digitale Inhalte basieren zu einem großen Teil auf Märchen. Viele Spiele und Geschichten für Kinder, die digital vermittelt werden, übernehmen Handlungsabläufe und Grundstrukturen von Märchen. Man könnte also sagen, digitales Erzählen würde nicht ohne Märchen funktionieren.
Auf der anderen Seite zeigt ein Blick auf das klassische Märchen, dass es vieles von dem enthält, was uns in unserer digitalisierten Welt fehlt: Märchen erziehen nämlich ihre Hörerinnen und Hörer oder Leserinnen und Leser zur Eigenständigkeit, auch zur Individualität. Das Märchen feiert die Außenseiter: das Aschenputtel, den kleinen Bruder, auf den niemand wetten würde oder das arme, ausgesetzte Kind. Das sind alles Individuen, die nicht als Influencer durchgehen würden, aber zum Schluss ihr Glück machen, trotz ihrer schwierigen Lage. Ihnen gelingt es durch Entscheidungen, die selten dem Mainstream folgen, ihre Welt zu erobern und ihr Leben zu meistern.
Das Digitale, zumindest in der Form, in der es sich heute vor allem dort zeigt, wo Kinder unterwegs sind, also in den sozialen Medien, erzieht eher zu bestimmten Ansichten oder Welthaltungen, die durch den Mainstream oder durch Marketing vorgegeben wird. Märchen geben den Außenseitern eine Chance.“
In einer Liste der zehn grausamsten Grimmschen Märchen liegt Schneewittchen auf Platz acht. Märchen sind doch eigentlich ursprünglich gar nicht für Kinder gedacht gewesen, oder?
Neumann: „Das kann man zwar so sagen, aber was wir heute als Kindheit verstehen, das gibt es ja noch gar nicht so lange. Vor dem 18. Jahrhundert, also vor der Aufklärung, gab es so gut wie keine Literatur speziell für Kinder. Das hat damit zu tun, dass Kindheit kein geschützter Raum war, sowie er sich seither entwickelt hat. Wir lassen Kindern Zeit, um heranzuwachsen, zu lernen und zu spielen. Das gab es damals nicht: Kinder waren eher unfertige Erwachsene, die liefen mit, mussten arbeiten im Rahmen ihrer Kräfte und saßen eben auch dabei, wenn man sich am Abend nach getaner Arbeit Märchen erzählte. Kinderliteratur gab es gar nicht. Insofern waren sie nicht für Kinder gemacht, aber Kinder kannten auch vor den Grimms schon Märchen.“
Das Wechselspiel von Gut und Böse wird in den Grimmschen Märchen oft behandelt, wobei das Gute immer siegt. "Das Märchen ist die einzige poetische Form, in der das Böse am Ende verschwunden ist. Und zwar für immer, ohne Wiederkehr“, sagt die Märchenforscherin Kristina Wardetzky aus Berlin. Warum ist das so wichtig und richtig?
Neumann: „Das ist wichtig, weil wir keine Angst haben wollen, wenn wir nach einer Gute-Nacht-Geschichte ins Bett gehen. Es darf keine Gefahr bestehen, dass das Böse nachts zurückkommen könnte und einem selbst Schaden zufügt. Das ist auch der Grund, warum das Böse vernichtet werden muss. Es darf keine Chance haben, mir als Zuhörerin oder Zuhörer etwas anzutun, nachdem das Märchen zu Ende ist. Und letztendlich ist das auch in jedem Blockbuster so. Wir wollen ein gutes Ende haben, wir wollen, dass das Böse verliert. Das liegt in unserer Natur, und wenn wir das bekommen, dann fühlen wir uns wohl.“
Wie kamen die Brüder Grimm eigentlich zu all diesen Geschichten?
Neumann: „Darüber ließe sich ein ganzes Seminar abhalten. Prof. Heinz Rölleke, der sogenannte Märchenpapst, der bis 2001 Literaturwissenschaftler hier an der Uni war, hat darüber intensiv geforscht. Die Grimms haben mündliche Quellen gehabt, aber auch in alten Büchern und Folianten nach Märchen gesucht. Sie haben in Zeitschriften inseriert, dass sie Märchen suchen und man ihnen bitte welche schicken möge, wenn man welche kennen würde.
Die Verteilung von mündlichen und schriftlichen Quellen war etwa 50/50. Das war in der Romantik auch eine geeignete Zeit, denn durch Napoleons Besatzung Deutschlands waren die ganzen Klöster aufgelöst worden und die Bibliotheken standen preiswert zum Kauf. So kam man auch an alte Bücher, die kein Vermögen kosteten. Das haben die beiden Brüder als junge Studenten dann auch getan. Bei den mündlichen Quellen sind sie zunächst ausgezogen und haben ältere Leute nach Märchen befragt. Das war aber nicht sehr erfolgreich, denn die beiden waren auch sehr schüchtern.
Schließlich haben sich die Grimms die meisten Märchen von ihren Bekannten erzählen lassen, mit denen sie sich als Studenten regelmäßig zu einer Art Literaturkreis trafen. Dazu gehörten vornehmlich gebildete, junge Frauen. Die haben viele Märchen erzählt, die wir in der Sammlung wiederfinden. Das ist ganz interessant, weil es eben Märchenerzählerinnen sind und dadurch in den Märchen auch die weibliche Perspektive zu finden ist. Viele dieser Frauen stammten aus dem hessischen Bildungsbürgertum und hatten französische Wurzeln, es waren Nachfahren von Hugenotten, die sich in Hessen niedergelassen hatten. Daher kamen auch viele Geschichten aus dem französischen Bereich in die Grimmsche Sammlung.
Auch wenn man oft von Deutschen Volksmärchen spricht, haben das die Brüder selber nie getan. Sie haben zwar eine Deutsche Grammatik und ein Deutsches Sagenbuch geschrieben, aber das Märchenbuch heißt ,Kinder- und Hausmärchen‘, weil sie schon geahnt hatten, dass viele Märchen nicht ursprünglich aus Deutschland, sondern aus ganz Europa kamen.“
1947 prüfte der britische Leutnant T. J. Leonard die Schulbücher der wilhelminischen Zeit und kam zu dem Schluss, die Grimmschen Märchen hätten einen verheerenden Einfluss auf deutsche Kinder gehabt und in ihnen eine unbewusste Neigung zur Grausamkeit erzeugt. Kann man das heute noch so stehen lassen?
Neumann: „Dass jemand angesichts all der Toten im Zweiten Weltkrieg nach einem Grund für den absolut barbarischen Ausbruch eines eigentlich kultivierten Volkes sucht, ist ja verständlich. Das auf die Märchen zu schieben, ist allerdings absolut unsinnig. Märchen sind eigentlich Texte, die in erster Linie Optimismus und Emanzipation von denen, von denen man abhängig ist, verbreiten. Insofern würde ich das Anliegen von Märchen erst einmal als grundlegend positiv bezeichnen.
Gleichzeitig sind Märchen sehr offene Texte, die eine Menge an Leerstellen enthalten, die man für sich deuten und interpretieren kann. Das macht das Märchen im gewissen Sinne anfällig für Missbrauch. Wenn man sich auf dem Markt der Märcheninterpretationen umsieht, gibt es da unfassbare Interpretationen, die nicht das Geringste mit dem eigentlichen Text zu tun haben. Viel Esoterisches zum Beispiel. Und genauso haben die Nazis die Märchen missbraucht. Sie haben den oder die Märchenhelden als treue(n), offene(n) Deutsche(n) interpretiert, der oder die von den anderen Völkern, dargestellt durch Hexen, Zauberer und böse Könige, betrogen und bedroht wird, letztendlich aber triumphiert.
Und das findet man natürlich auch in den wilhelminischen und nationalsozialistischen Schulbüchern. Dabei sind viele Märchen französischen, niederländischen oder schottischen Ursprungs. Es gibt also kein deutsches Märchen, sondern es gibt europäische Volksmärchen.“
In seinem Buch „Kinder brauchen Märchen“ schreibt der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim von der Wichtigkeit und Notwendigkeit der Märchen für Heranwachsende. Andere Stimmen beharren darauf, dass Märchen partout für Kinder zu grausam sind und überkommene Rollenmodelle zeigen. Wie geht man da gesellschaftlich mit um?
Neumann: „Bruno Bettelheim trifft in seinem Buch schon den Kern der Bedeutung, den Märchen für Kinder haben, auch wenn er mit seiner sehr an Freud orientierten Methodik nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit ist. Aber es stimmt, dass Märchen Kindern dabei helfen, Konflikte durchzustehen, Probleme anzugehen und optimistisch zu bleiben. In der aktuellen Resilienzforschung, also der Forschung dazu, wie Menschen Krisen durchstehen und überwinden, spielen Märchen eine herausragende Rolle.
Und Kindern Grausamkeit in der Fiktion vorzuenthalten, hat sich als Fehler erwiesen. Schließlich werden Kinder auch im wahren Leben mit Grausamkeiten konfrontiert. Das Märchen bereitet sie darauf vor und zeigt ihnen, wie man da rauskommt. Die Massage lautet: Nicht aufgeben, die Hoffnung nicht verlieren, im Notfall selbst handeln und nicht auf Hilfe warten. Zuerst das Versprechen im Märchen vom Rumpelstilzchen: ,Ich spinn dir Stroh zu Gold‘, aber dann die Forderung einer Gegenleistung, in diesem Fall die Forderung nach dem erstgeborenen Kind, dass es bekanntermaßen schlachten und essen will. Das ist wieder diese größtmögliche Bedrohung des Lebens, die wichtig ist, um eine spannende Geschichte zu erzählen. Dann muss die neugebackene Königin eben selber handeln.
Und bei Hänsel und Gretel ist es genauso. Vor dem Verhungern rettet sie erst einmal die Hexe, aber dann will die Hexe sie auch selber essen und das ist für Kinder wieder diese Bedrohung, mit der die Märchen arbeiten. Die Grausamkeit in Märchen ist plastisch. Die Grausamkeit, die man sich vorstellt, wenn man Märchen erzählt bekommt, kann sich immer nur auf das eigene Erleben von Grausamkeit stützen.
Aber selbstverständlich gibt es auch Märchen, die ich heute keinem Kind mehr vorlesen würde. Dazu gehört sicherlich ,König Drosselbart‘. Eine Prinzessin, die nicht heiraten will, wird so lange gedemütigt, bis sie sich mit einem seltsam aussehenden aggressiven Typen zufriedengibt, das passt sicher nicht in die heutige Zeit. Deshalb sollte man sich die Märchen schon anschauen, bevor man sie vorliest oder erzählt.“
Und heute, gibt es denn auch neue Märchen?
Neumann: „Ja, aber sicherlich keine Volksmärchen. Die kann es in einer Gesellschaft, die vor allem über Schrift kommuniziert, in der Form nicht mehr geben. Sie gehören einer anderen Epoche an. Das war ja auch der Grund, warum die Grimms angefangen haben zu sammeln, weil sie sicher waren, dass diese mündliche Tradition in 20 oder 30 Jahren verloren sei. In anderen Gesellschaften, in denen die Schriftkultur nicht die komplette Gesellschaft durchdrungen hat, gibt es Volksmärchen sicherlich noch. Nur werden diese Gesellschaften immer weniger. Neue Märchen, die von Autorinnen und Autoren geschrieben werden, gibt es natürlich sehr viele. Auch Märchenparodien kommen offenbar nie aus der Mode.“
Zum Schluss: Sollte man Märchen lieber vorlesen oder erzählen?
Neumann: „Aus lesedidaktischer Perspektive würde ich sagen: vorlesen. Das zeigt den Kindern, dass in Büchern tolle Dinge stehen können und erweckt den Wunsch, lesen zu wollen. Als Märchendidaktiker würde ich sagen, wenn Sie sich mit dem Vorlesen schwertun, erzählen Sie die Märchen aus dem Gedächtnis. Das Wichtigste ist eh, dass da ein Mensch ist, mit dem man über das Gehörte sprechen kann. Deshalb ist persönliches Lesen oder Erzählen immer ein Gewinn für Kinder.“