Leserbrief Freiwilligendienste stärken
Betr.: Kommentar zum Vorschlag einer „sozialen Pflichtzeit“, Rundschau vom 18. Juni 2022
Lieber Herr Trapp,
so gerne ich in der Regel Ihre Beiträge und Kommentare in der Rundschau verfolge, so entschieden muss ich Ihnen bezüglich Ihres Kommentars zum Vorschlag einer „sozialen Pflichtzeit“ widersprechen.
Natürlich ist es ein verlockender Gedanke, die heranwachsende Generation als Lückenfüller für den zunehmenden Fachkräftemangel einzusetzen. Persönlichkeitsbildende Effekte auf die Jugend sind dabei gute „Verkaufsargumente“.
Das Thema Pflichtdienst ist nicht neu und stammt auch nicht von Frank-Walter Steinmeier, sondern wird mit schöner Regelmäßigkeit alle paar Jahre von der Politik zum Füllen des Sommerlochs genutzt, zuletzt im Sommer 2018 durch Annegret Kramp-Karrenbauer, die ein soziales Pflichtjahr vorschlug.
Es ist sicherlich richtig, dass ein solches Jahr sich positiv auf die Persönlichkeitsbildung und Berufsorientierung jeder und jedes Einzelnen auswirken kann, aber haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, welche Rahmenbedingungen notwendig wären, um so ein Jahr zu einem Gewinn für die Gesellschaft und die jungen Menschen werden zu lassen?
Erste Bedingung: sinnstiftende Tätigkeiten/Einsatzbereiche
Der persönlichkeitsbildende Effekt kann sicherlich durch sinnstiftende Tätigkeiten beispielsweise in Kindergärten, der Altenhilfe et cetera erreicht werden. Das konnte ich selbst bei meinem Freiwilligen Sozialen Jahr in der Behindertenhilfe erleben, welches ich als sehr bereichernd für mein weiteres Leben empfunden habe. Aber nicht auszudenken, wie sich ein Jahr verpflichtendes Säubern der Barmer Anlagen auf meine Persönlichkeit und mein weiteres Leben ausgewirkt hätte…
Zweite Bedingung: pädagogische Begleitung und Austausch
Für viele junge Menschen, die heute bereits einen Freiwilligendienst leisten, ist eine entsprechende pädagogische Begleitung sowie eine Reflexion ihrer Tätigkeiten und Erfahrungen unerlässliche Bedingung für ein Gelingen des Jahres. Nur durch den gewinnbringenden Austausch mit anderen Freiwilligen wird das Jahr zu einem Geben und Nehmen für die Gesellschaft und die jungen Menschen. Eine qualitativ hochwertige Begleitung sowie den Rahmen für einen Austausch mit anderen Freiwilligen stellen zahlreiche Träger der Sozial- und Bildungsarbeit sicher. Zur Zeit der Wehrpflicht und des Zivildienstes war eine solch intensive Begleitung keinesfalls sichergestellt. Kaum vorzustellen, wie eine qualitativ hochwertige Begleitung organisiert werden könnte, wenn sie jeweils allen Schulabgängerinnen und Schulabgängern eines Jahrgangs m Rahmen eines Pflichtdienstes zuteilwerden sollte (also wesentlich mehr jungen Menschen als zu Wehrpflichtzeiten).
Dritte Bedingung: Finanzierung
Einen Freiwilligendienst muss man sich als junger Mensch erst einmal leisten können. Freiwillige, die heutzutage einen Dienst leisten, können dies nur tun, indem sie weiterhin bei ihren Eltern leben und sich von ihrem spärlichen Taschengeld selbst ihr Ticket zu ihrer Einsatzstelle finanzieren. Ausbildung und Studium, und damit auch das Geldverdienen, müssen dafür hinausgeschoben werden. Die Politik ist seit Jahren nicht in der Lage, den Forderungen nach einem kostenfreien Ticket für diese Personengruppe nachzukommen. Wie stellen Sie sich da die Finanzierung eines Pflichtdienstes vor? Es gibt unter den jungen Menschen auch eine nicht unerhebliche Zahl, die nicht mehr weiter von den Eltern finanziert werden kann oder möchte und die darauf angewiesen ist, möglichst schnell eine Ausbildung aufzunehmen, weil es für sie existenzsichernd ist. Kann diese Existenzsicherung während eines Pflichtdienstes von der Politik gewährleistet werden? Und wenn ja, warum funktioniert das dann nicht für die vergleichsweise geringe Zahl an Freiwilligen?
Meine Forderung sowie die vieler Freiwilligendienste-Träger ist daher: Freiwilligendienste und deren Rahmenbedingungen sollten finanziell gestärkt und damit attraktiver gemacht werden! Es sollte zunächst einmal ein „Recht auf einen Freiwilligendienst“ eingeführt werden, bevor wir uns regelmäßig weiter an der Pflichtdienst-Debatte abarbeiten.
Und zu guter Letzt: Was würden Sie denn von einem Pflichtdienst für lebensältere Menschen halten, während die junge Generation versucht, mit der in „Regelstudienzeiten gepressten Uni“ klarzukommen? Lebenslanges Lernen statt ein Lebensabend vor dem Fernseher stünde vielen auch gut zu Gesicht.
Engagement hält bekanntlich fit, vielleicht reduziert das ja sogar den Anteil der pflegebedürftigen älteren Menschen und löst dadurch das Problem des Fachkräftemangels.
Sind Sie selbst bereit dafür? Alternativ dürfen Sie sich aber auch gerne für einen Bundesfreiwilligendienst bei einem Träger Ihrer Wahl bewerben und der Gesellschaft in Ihrer Rentenzeit etwas von dem zurückgeben, was Sie als Kind einer Wohlstandsgeneration mitbekommen haben.
Ihre Rente ist vermutlich sicher, die der jungen Generation nicht.
Karen Rau
● Leserbrief an die Wuppertaler Rundschau: redaktion@wuppertaler-rundschau.de
● Zu den Rundschau-Leserbriefen: hier klicken!