Nach Toreschluss - die Wochenendsatire Wort-Life-Balance
Wuppertal · Früher bestand das Wetter aus einer Abfolge von Hochs und Tiefs. Inzwischen kommen abwechselnd Tiefs und sehr Tiefs. Deshalb muss man viel Fernsehen gucken. So kam es auch, dass ich neulich nach vielen Jahren mal wieder bei „Germany‘s next Topmodel“ reinschaute.
Erfreut stellte ich dabei fest, dass die Models inzwischen so vielgestaltig sind, dass ich vielleicht auch Siegchancen hätte. Außerdem fand ich spannend, dass einige Kandidaten ein Pressetraining absolvieren mussten, bei dem ihnen eine erfahrene Journalistin zu Übungszwecken knallharte Fragen stellte. Zum Beispiel: „Wer bist du?“
Das angesprochene polyestergewandete Modeltalent antwortete beherzt: „Ich bin Polly Putzifant (Name geändert), komme aus Hönnepel-Niedermörmter (Ort geändert) und freue mich total, diese Reise mitzumachen und ... genau!“ Wir können hier ein sprachliches Phänomen beobachten, dass heute praktisch alle jüngeren Menschen betrifft, die vor anderen etwas sagen sollen: Sie sagen ununterbrochen „genau“. Ähnlich wie bei Fußballern, die in Interviews immer „wie gesagt“ sagen, ohne vorher überhaupt etwas gesagt zu haben, lässt einen diese Beobachtung etwas ratlos zurück.
Wie mag das Genausagen entstanden sein? Früher hat man am sich ja erfahrungsgemäß frühzeitig abzeichnenden Ende des Satzes einfach die Stimme gesenkt und Schluss gemacht. Jetzt scheint es aber fast so, als würden die Genausager komplett davon überrascht, dass der von ihnen selbst erfundene Satz plötzlich und unerwartet zu Ende ist. Deshalb erschrecken sie sich, machen eine Kunstpause und sagen dann „genau“, während sie aufgeregt nach dem Anfang des nächsten Satzes suchen, der eben noch da war, aber jetzt irgendwie nicht mehr. Vielleicht ist aber auch eine ganze Generation in dieser so wackelig gewordenen Welt inzwischen dermaßen verunsichert, dass sie sich an jedem Satzende permanent selbst versichern muss, dass sie Recht hat.
Bei „genau“ handelt es sich in dieser Verwendung übrigens um eine Interjektion. (Hinweis für Leser, die keine Nähe zur Grammatik haben: Interjektion ist keine Spritze, sondern ein Empfindungs- oder Ausrufewort.) Und Interjektionen hat der Deutsche am Satzende ja immer schon gerne benutzt. Zum Beispiel das beliebte „nicht wahr“, mit dem ich noch nie klar gekommen bin. Denn was muss ich eigentlich antworten, wenn jemand zu mir sagt: „In der Elberfelder City haben sie mehr Löcher im Boden als Läden, nicht wahr?“ Bin ich der gleichen Meinung, müsste ich „nein“ sagen, weil „nicht wahr“ ja nicht wahr ist. Gebräuchlich ist aber als Bestätigung stattdessen „ja“, was genau genommen das Gegenteil bedeutet. In Wuppertal hat man dieses Problem mal wieder besser gelöst als anderswo, indem „nicht wahr?“ durch „woll?“ ersetzt wurde. Da kann man einfach „ja“ oder „nein“ drauf sagen, ohne einen Knoten im Gehirn zu kriegen.
In beiden Varianten wurden die Sätze aber zu Ende gebracht, was heutigen Generationen offensichtlich nicht mehr gelingt. Gerade fällt mir aber ein, dass das Genausagen auch ein Ausdruck des Bemühens um die richtige Wort-Life-Balance sein könnte. Ähnlich wie bei der Arbeit funktioniert das nach dem Prinzip: Mein Satz hört genau dann auf, wann ich es möchte, auch wenn er eigentlich noch weitergehen müsste, weil ich heute schon so viele Buchstaben verbraucht habe. Jetzt haben wir das Phänomen entschlüsselt und ... genau!
Bis die Tage!