Kommentar Doppelte Impfung und einfache Solidarität

Wuppertal · Die Bilder, die es am vergangenen Samstag aus den Innenstädten von Barmen und Elberfeld zu sehen gab, waren schön und verstörend zugleich.

Bilder vom vergangenen Samstag aus der Elberfelder City.

Foto: Christoph Petersen

Weil der Inzidenzwert am fünften Tag hintereinander unter 100 lag, durften die Einzelhandelsgeschäfte wieder öffnen – und die Kundinnen und Kunden ohne tagesaktuellen Test (oder eine Bestätigung, genesen oder vollständig geimpft zu sein) hereinlassen. Und die Wuppertalerinnen und Wuppertaler machten, auch weil das Wetter herrlich war, überaus rege davon Gebrauch.

Sehr rege. Da weiterhin die Hygienemaßnahmen wie die Zugangsbeschränkung pro Quadratmeter Verkaufsfläche gelten, bildeten sich vor einigen Geschäften lange Schlangen. Zeitweise warteten die Menschen mehr als eine Stunde. Und schon setzte in den „sozialen“ Medien das kollektive Unverständnis ein. Doch ganz so einfach ist es nicht.

Es ist vielmehr verständlich und liegt in der Natur des Menschen, das, worauf man lange gewartet hat, möglichst schnell umzusetzen. Wer die Citys erreicht hatte, drehte natürlich auch nicht um. Dass Polizei und Ordnungsamt einen solchen Zustand nicht in den Griff bekommen konnten, war klar. Dafür hätte man schon die Innenstadtbereiche absperren müssen. Die allermeisten Menschen trugen Masken. Die Abstände wurden nur bedingt eingehalten.

Es ist gut und richtig, dass das „normale“ Leben wieder anläuft. Gut für den Einzelhandel und die Gastronomie, die so dringend auf Kundschaft angewiesen sind. Und für die Psyche der Menschen. Doch es gibt auch ein „Aber“: Jeder und jedem sollte klar sein, dass die Pandemie noch nicht vorüber ist.

Die, die vollständig geimpft bzw. genesen sind, sollen und müssen selbstverständlich ihre Freiheiten zurückbekommen. Die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen waren kein „Einsperren“, sondern der Versuch des Staates, der seine Bürgerinnen und Bürgerinnen zu schützen hat, die Lage in den Griff zu bekommen. Ob es das geeignete Mittel war oder die steigende Zahl der Impfungen bzw. das Wetter für den Rückgang der Inzidenz verantwortlich ist, kann die Wissenschaft naturgemäß erst später analysieren.

"Full House" auf der Wuppertaler Talachse
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Lange Schlangen vor den Geschäften

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Foto: Christoph Petersen

Wer meint, die (im Gegensatz zu anderen Ländern nie in Zweifel stehende) „Rückgabe“ der Grundrechte dürfe aus ethischen Gründen erst dann geschehen, wenn alle Bürgerinnen und Bürger ein Impfangebot bekommen (und angenommen oder abgelehnt) haben, vergisst eins: Es macht viel mehr Sinn, schon jetzt etwa den Urlaubsbetrieb wieder anzukurbeln, statt im Herbst alle gleichzeitig (und damit noch teurer) auf Reisen zu schicken. In anderen Branchen ist es nicht anders.

Ja, „die Politik“ hat viele Fehler gemacht. Und natürlich kann sie die Vielzahl der Forderungen, die sich oft diametral entgegenstehen (die Bürgerinnen und Bürger sind sich keineswegs einig, das ist das Gute an einer Demokratie), nicht allesamt erfüllen. Es wäre schon erstaunlich gewesen, wenn alles glattgelaufen wäre. Dann wäre der Staat erstaunlich gut vorbereitet gewesen, was Grundlage für eine mal echte Verschwörungstheorie gewesen wäre. Aber: Berechtigt ist die Forderung, aus den Fehlern zu lernen.

Gleichzeitig sollte man nicht nur nach „dem Staat“ rufen. Jede und jeder Einzelne kann und muss weiter dazu beitragen, dass keine vierte Welle kommt. Wer schon komplett geimpft ist, kann sich freuen – und sollte sich solidarisch gegenüber anderen (Generationen) verhalten. Und nicht wie ein Herr in Ronsdorf, der auf die weiter gültige Abstandregel hingewiesen wurde, triumphierend verkünden: „Ha, ich bin zwei Mal geimpft!“

Das ist schön für ihn und kein Anlass zu Neid. Sein Risiko ist nun deutlich geringer, aber er kann weiter Überträger sein. Vor allem sollte er nun dieselbe Solidarität an den Tag legen, die ihm die Gesellschaft mit der Priorisierung zugestanden hat.