Kommentar zur Krise im Tanztheater Pina Bausch Kalt kalkulierter Wahnsinn

Wuppertal · Lügen, Macht und Intrigen sind oft Gegenstand großer Dramen auf, viel zu oft leider auch hinter der Bühne. Was sich derzeit hinter den Kulissen des Wuppertaler Tanztheaters abspielt, hat beinahe Shakespeare-Ausmaße.

Rundschau-Redakteurin Nicole Bolz.

Foto: Bettina Osswald

Offenbar seit Monaten brodelt es im Hintergrund zwischen der Intendantin und künstlerischen Leiterin Adolphe Binder und dem Geschäftsführer Dirk Hesse.
Dass dies jetzt öffentlich wurde, war kein Zufall, sondern kalt kalkulierter Wahnsinn. Gezielt wurden vergangene Woche verschiedene Presseorgane in und außerhalb Wuppertals (auch die Wuppertaler Rundschau) mit Informationen bestückt, die auf vielen Seiten das angebliche Versagen von Binder dokumentieren sollen. Ein Teil dieser Informationen diente auch dem Beirat des Tanztheaters in seiner letzten Sitzung als Vorlage. Am Ende stand bereits kühn vorweggenommen Schwarz auf Weiß, was der Zweck dieser Aktion war: die fristlose Kündigung von Binder, gerade mal ein Jahr im Amt. Lieber Beirat, wir machen es dir ganz einfach, ihr habt nun alle Vorwürfe gelesen, dann bitte hier unterschreiben, danke und auf Wiedersehen Frau Binder.

Doch man hat sich verzockt. Und das in einem Ausmaß, das man aktuell noch gar nicht erfassen kann. Denn erst bockte der Beirat — er hatte keine Lust, so kurzfristig einbezogen und zur Entscheidung gedrängt, die Drecksarbeit zu erledigen. Und dann agiert die Presse auch nur zum Teil wie gewünscht. Wir sollten sicherheitshalber dreckige Wäsche waschen, falls das mit der Kündigung nicht so leicht funktioniert — oder auch zusätzlich, wenn schmutzige (verdrehte?) Details nicht wie erhofft an die Öffentlichkeit gelangen würden. Alles nur, um Druck zu erzeugen, diese Entscheidung gegen Adolphe Binder zu treffen.

Und warum? Weil sie auf lange Sicht der Idee des Tanzzentrums schade, hieß es. Denn Binder, so ist zu hören, sei keine leidenschaftliche Fürsprecherin dieser Idee — allerdings auch niemals eine Verhinderin. Jetzt allerdings ist genau dieses große Zukunftsprojekt in Gefahr und man muss sich fragen, ob das für die Intrigenspinner tatsächlich nicht absehbar, genau so gewünscht oder schlicht etwas war, das sie in Kauf nahmen, um eine ungeliebte und vertraglich noch bis 2022 agierende Intendantin loszuwerden? Fahrlässig oder mutwillig, Fakt ist jedenfalls, dass die Bundesregierung gerade erst 2,2 Millionen Euro für die Planung des Tanzzentrums locker gemacht hat und jetzt offensichtlich "not amused" ist. Wuppertals SPD-Bundestagsabgeordneter Helge Lindh musste bereits viele besorgte Anfragen aus Berlin und Düsseldorf beantworten. Tenor: Wofür sollen wir eigentlich so viel Geld geben, wenn sich das weltberühmte Tanztheater Pina Bausch gerade selbst zerlegt?

Es ist, neun Jahre nach dem Tod von Pina Bausch, seine größte Zerreißprobe. Viele, viele Monate schwelt dieser Konflikt nun. Und es hätte einen souveränen und engagierten Kulturdezernenten gefordert, der diese komplizierte Gemengelage mit Fingerspitzen- und Verantwortungsgefühl zu deeskalieren vermag. Niemanden, der sich (sowie die Stadtspitze überhaupt) für eine Seite vereinnahmen lässt und — wie am Wochenende geschehen — gemeinsam mit Dirk Hesse nach Paris reist, um ihm offensichtlich den Rücken zu stärken.

Die Tänzer jedenfalls, sie sprechen sich mehrheitlich ausdrücklich für eine weitere Zusammenarbeit mit Binder aus. Neben Michael Strecker, der mutig gegenüber der Rundschau sogar einzelne Vorwürfe aufklären konnte und damit demonstriert hat, dass sich manches vielleicht auch ganz anders zugetragen hat, haben sich mit Nazareth Panadero und Julie Shanahan immerhin auch zwei der größten Ikonen des Wuppertaler Tanztheaters geäußert: Mit ihnen, sagten auch sie gegenüber der Süddeutschen Zeitung, habe nie jemand über all das gesprochen. Sie wollen weiter mit Binder arbeiten und haben (begründete) Angst, dass das Tanztheater erheblichen Schaden nimmt.

Das ist doch der eigentliche Skandal! Man wollte offenbar an den Tänzern vorbei eine derart wichtige Entscheidung über die Person treffen, auf die sie sich gerade erst eingelassen, der sie vertraut haben, die sie offenbar schätzen und mit der sie weiter in die Zukunft gehen wollen. Da muss man mal einen Moment innehalten und sich fragen: Wofür steht das Wuppertaler Tanztheater? Für die Kunst oder den Kommerz?

Diese Frage muss man sich schon allein stellen, wenn man weiß, dass die künstlerische Leiterin ihre Spielpläne von der Geschäftsführung absegnen lassen muss. Weder Schauspiel, noch Oper oder Orchester in Wuppertal müssen dies. Sie genießen künstlerische Freiheit — im Rahmen ihres zugesicherten Budgets. Die Menschen kommen auch heute noch in Scharen zu den Auftritten des Tanztheaters — im Tal und in der Welt —, um genau diese Persönlichkeiten auf der Bühne zu sehen. Die alten Heroen ebenso wie die Neuzugänge. Sie sind die Seele, sie tragen den Geist Pina Bauschs weiter in die Zukunft. Und wie sagte neulich noch jemand so trefflich: "Es ist leichter, einen guten Geschäftsführer zu finden, als einen guten Intendanten."

Warum also ist bei diesem Konflikt "Geschäftsführer gegen Intendantin" für alle so klar, dass Adolphe Binder gehen muss? Wer ganz offensichtlich solch eine Intrige spinnt (oder spinnen lässt) und dabei bereit ist, so viel aufs Spiel zu setzen, der kann nicht in dieser Position bleiben! Dem geht es nicht um den Erhalt, der setzt ihn sogar für ein paar Rachegefühle mutwillig aufs Spiel.

Die Vorwürfe, die gegen Adolphe Binder in diesem (inhaltlich einseitigen) Papier erhoben werden, wiegen schwer. Sie fordern Aufklärung. Das darf man nicht bagatellisieren. Das aber gehört nicht in die Öffentlichkeit, das müsste man ausgeruht mit allen Betroffenen klären. Und wem es wirklich darum geht, der geht auch sensibel und verantwortungsbewusst damit um. Hier jedoch versuchen Verantwortliche möglichst schnell, eine Entscheidung zu erzwingen.
Man kann nur hoffen (aber nach den letzten Informationen leider nicht erwarten), dass der Beirat des Tanztheaters, der am heutigen Mittwoch erneut tagt, das Spiel nicht mitspielt und sich nicht zu einer voreiligen Entscheidung drängen lässt, sondern den Vorwürfen objektiv nachgeht.

Alles andere wäre grob fahrlässig und würde nicht nur die Zukunft des geplanten Tanzzentrums, sondern auch die des Tanztheaters selbst massiv gefährden.
Die (kulturinteressierte) Welt schaut jetzt genau auf Wuppertal. Dessen muss sich jeder bewusst sein, der sich heute für eine Kündigung von Adolphe Binder entscheidet.