Erfahrungen mit einer Missionsgesellschaft „Heute denke ich selbst“

Wuppertal · Mira (Name geändert) lebte in ihrem Geburtsort jahrelang unter dem Einfluss einer Missionsgesellschaft. Heute ist die inzwischen in Wuppertal heimische 30-Jährige davon überzeugt, in einer Sekte aufgewachsen zu sein.

Symbolbild.

Foto: Jackson David

Bis vor drei Jahren lebte Mira in einer Welt mit Engeln und Teufeln, dem Versprechen des Himmels und der Angst vor der Hölle. Für sie gab es keinen Zweifel: In naher Zukunft, vielleicht schon morgen, wird die Welt untergehen, Jesus Christus auf die Erde kommen und die wiedergeborenen Christen retten. Mira möchte ihre echten Namen und den Namen der Missionsgesellschaft, die sie vor drei Jahren verlassen hat, nicht in der Zeitung lesen. Heute ist die 30-Jährige überzeugt davon, in einer Sekte aufgewachsen zu sein. „Aber ich bin noch nicht so weit, jemanden an den Pranger zu stellen“, erklärt sie ihre Bitte um Diskretion. Wir treffen uns in einem Café in der Elberfelder Innenstadt, vor ihr auf dem Tisch steht eine Fritz Cola, daneben liegt ein Zettel mit Notizen. Das Wort ganz oben auf ihrer Liste: „Indoktrination“. Das Wort ganz unten: „Suizid“.

Für die Neu-Wuppertalerin ist es wichtig, darüber zu sprechen, wie gefährlich Religion sein kann. „Engel und Dämonen, der Teufel und die Hölle, das ist nichts für Kinder, das ist Ü18“, betont sie. Der Redaktion liegt der Name der Missionsgesellschaft vor, in der Mira aufgewachsen ist. Offiziell als Sekte eingestuft wird sie nicht, allerdings ist in einigen Berichten von sektenartigen Strukturen die Rede. Um zu erklären, was eine Sekte ausmacht, hat Mira eine Checkliste mitgebracht. „Eine Sekte gibt Sinn und Geborgenheit, eine Sekte vermittelt ein neues Weltbild“, liest die 30-Jährige vor. „Die Mitglieder einer Sekte empfinden sich selbst als Elite, sie begleitet ein Gefühl des Auserwähltseins. Die Welt außerhalb der Gruppe wird in dunklen Farben gemalt, die Gruppe kontrolliert sich untereinander, die Wissenschaft wird als negativ und satanisch abgelehnt.“

Mira fühlt sich durch die Auflistung bestätigt. Jeden Sonntag, berichtet die 30-Jährige, besuchte sie mit ihrer Familie den Gottesdienst, unter der Woche fanden in der Gemeinde Gruppentreffen statt. Zu Hause wurde christliche Musik gehört, Bücher wie „Bibbi Blocksberg“ und „Harry Potter“ waren verboten. Die Eltern bestimmten über das Fernsehprogramm genauso wie über Miras Kleidungsstil. Der Sinn der Missionsgesellschaft? Bis zum Tag des Weltuntergangs so viele Menschen wie möglich missionieren und das Leben so zu gestalten, dass man selbst errettet wird. Das Gefühl, einer Elite anzugehören? „Ich konnte nicht verstehen, warum andere Menschen nicht glauben. Natürlich waren wir auserwählt.“

Als in der Schule die Evolutionstheorie durchgenommen wurde, hielt Mira vor der Klasse ein Referat. Ihre These: Die Evolutionstheorie sei „bullshit“. Schließlich habe Gott die Welt erschaffen. Die Reaktion der Lehrer? „Sie haben nichts dazu gesagt. Zwei aus dem Kollegium gehörten zu unserer Gemeinde.“ Während des Interviews ertappt sich Mira mehrere Male dabei, wie sie von „uns“ anstatt von „denen“ spricht. „Ich zähle mich selbst aber nicht mehr dazu“, betont sie.

Die erste Irritation erfuhr die Wuppertalerin im Alter von zehn Jahren. Eine Tante, die nicht der Missionsgesellschaft angehörte, verstarb. Die Familie versicherte Mira, sie komme in den Himmel, obwohl sie nicht gläubig war. Das passte nicht in Miras Weltbild. Das zweite Irritationsmoment folgte mit 15. Ein gleichaltriger Freund aus der Missionsgesellschaft outete sich als homosexuell. Er wurde aus der Gemeinschaft verbannt. In der Öffentlichkeit wechselte man die Straßenseite, Miras Eltern untersagten ihr den Kontakt. „Warum wird jemand ausgeschlossen, weil er das selbe Geschlecht liebt?“, fragte sie sich und fing an, mit ihrem Weltbild zu hadern. Den Gottesdiensten und Gruppentreffen blieb sie fern. „Aber der Glaube an Gott war immer da. Es war für mich keine Option, dass es Gott nicht gibt.“

Wer zweifelt, dessen Glaube ist nicht fest genug, sagt die Gemeinde. Mira verfiel in Depressionen. Ihre Eltern versuchten, den Dämon aus Miras Geist zu treiben. „Im Namen Jesu, ich befehle dir, sei still“, sprach die Mutter zu dem Dämon anstatt zu ihrer Tochter.

Mit 18 Jahren verließ die heute 30-Jährige ihr Elternhaus und suchte sich eine Wohnung im Umkreis der Familie. Ein richtiger Bruch war das nicht. Täglich begegneten ihr Gemeindemitglieder auf der Straße und im Supermarkt. „Ich fühlte mich verfolgt, konnte irgendwann das Haus nicht mehr verlassen. Ich wünschte mir sehnlichst, ich könnte nicht glauben,“ erinnert sie sich. Bis zur Erfüllung des Wunsches dauerte es neun weitere Jahre. Nach mehreren Hinweisen aus dem Freundeskreis, sie sei womöglich in einer Sekte aufgewachsen, machte es aus heiterem Himmel plötzlich „klick“. „In dem Moment ist Gott gestorben.“

Für Mira stürzte ein Weltbild zusammen. „Wenn dir der Boden wegbricht und du nichts hast, woran du dich festhalten kannst, ist es schwer, zu überleben“, schildert sie ihre Gefühlslage. Mira hat es geschafft, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Schließlich gaben Therapeuten und Ärzte den Anstoß, das vertraute Umfeld zu verlassen. „Und dann bin ich ausgerechnet in der Sekten-Hochburg Wuppertal gelandet“, schmunzelt die 30-Jährige mit Blick auf die rund 80 hier heimischen Glaubensgemeinschaften.

Im Tal hat sie einen neuen Therapeuten gefunden, denn noch immer wird sie von Albträumen, Angstattacken und Verfolgungsphantasien gequält. Zu ihren Eltern hat Mira nur noch sporadisch Kontakt. „Ich gelte für meine Familie als gefährlich, da ich andere Ansichten vertrete.“

Zum Schluss des Gesprächs kommt sie erneut auf Engel und Dämonen zu sprechen. Das Bild von Engelchen und Teufelchen, links und rechts auf den Schultern sitzend, empfindet Mira als sehr plastisch.

„Früher war mir klar, dass ich immer auf den Engel hören muss. In Zeiten, in denen ich zweifelte, hörte ich beiden zu. Heute sind sie weg. Heute denke ich selbst.“