„Die drei Schwestern“ von Tschechow Drei Stunden lang durch den Theater-Wolf
Wuppertal · Die Wuppertaler SchauspieI-Inszenierung von Tschechows „Die drei Schwestern“ wirbelt den Klassiker von 1901 auf der Bühne des Opernhauses mächtig durch die Schleudertrommel. Wer als Zuschauer danach platt ist wie nach einem viele kilometerlangen Berg- und Tal-Lauf bei Gegenwind und Regen, muss sich nicht schämen.
Regisseur Henri Hüster nimmt das Publikum ganz schön ran mit seiner Interpretation der Story der Schwestern Olga, Mascha und Irina, die – voller Rückkehr-Sehnsucht nach dem pulsierenden Ex-Wohnort Moskau – nun in der Provinz versauern. Verzagt, verzweifelt und entwurzelt sind die Frauen, die mit sich, ihren Gefühlen, der Gegenwart, der Vergangenheit und eigentlich mit allem hadern. Vater und Mutter verstorben, der Bruder keine Hilfe, die jeweiligen Verbindungen zu Männern letztlich leer, beruflich nichts Aussichtsreiches in Sicht.
Hüsters „Drei Schwestern“ ist ein dreistündiger Vier-Akter voll optischer Sogwirkung durch atemberaubende Kostümvielfalt und Kostümphantasie, teilweise fast magische Lichteffekte und definitiv ganz starke Bühnenbilder – eines für jeden Akt. Großer Applaus für Hanna Rode!
Die von Vasna Aguilar entworfene Choreographie schickt die Schwestern und ein zahlenmäßig stattliches Ensemble, angesichts dessen man auch mal den Überblick verlieren kann, auf einen Dreh,- Stampf- und Wirbel-Marathon.
Es fällt weiß Gott nicht immer leicht, den verschachtelten Tschechow-Text mit den Bewegungsbildern zu synchronisieren, die Fülle der Bilder zu sortieren – und das plötzliche Abstoppen zu verkraften, wenn (Achtung Russland, Achtung Ukraine!) jüngste Zeitgeschichte und Gegenwart ins Spiel kommen. Ein großer Lenin-Kopf, Schilderungen des gescheiterten Sozialismus‘ sowie eine eingespielte Putin-Ansprache – alles mit dabei. Ob diese Aktualisierungen dem Stück guttun? Nein – aber zurzeit müssen sie wohl sein. Keine Frage jedoch: Die mehrstimmig präsentierte Übersetzung der Putin-Ansprache (großes Kompliment hier an Tim Alberti vom Inklusiven Theater!) ist eine starke Idee.
Das Leben der drei Schwestern sowie ihres gesamten Umfeldes in der Provinzgarnisonsstadt ist grau, hohl, eigentlich ein Trauerspiel. Zäh zieht sich die Zeit dahin, vergeht genau genommen gar nicht, dreht sich – wie die handelnden Personen – um sich selbst. Zum Schluss zieht die Garnison, und damit das bisschen Leben, weg. Dann bleibt nur noch innere Ödnis.
Henri Hüster und das Wuppertaler Ensemble machen aus diesem Gesellschaftsbild, das den Untergang der Welt, in der es spielt, schon andeutet, einen Rausch der Farben und Bewegungen. Dem hält nicht jeder stand: Bei der Premiere präsentierten sich nach der Pause die Zuschauerreihen sichtbar gelichtet.
Apropos Premiere: Olga-Darstellerin Maditha Dolle war krank, so dass Choreographin Vasna Aguilar ihre Rolle „darstellte“ – zum von Regisseur Hüster eingesprochenen Text. Eine beachtliche Leistung und fürs Publikum noch eine Erfahrung mehr an diesem Abend des Die-Sehgewohnheiten-auf-den-Kopf-Stellens.
Apropos beachtliche Leistung: Zwei Namen muss man besonders nennen. Julia Wolff und Bühnen-Urgestein Hans Richter sind Säulen der Ruhe und Text-Brillanz.
Man kann nach Henri Hüsters „Die drei Schwestern“ durchaus fragen: Ja, was war das denn jetzt? Es gibt auch Antworten darauf: Mächtig modern, ein wirkliche Wagnis und ja, auch eine Zumutung. Das fast durchgängig junge Premierenpublikum applaudierte begeistert. Die anderen waren entweder schon wieder zu Hause – oder sie haben mitgeklatscht.