Kommentar: Corona – und was dabei nicht vergessen werden darf Freiheit(en), Freizügigkeit – und alte Denkmuster
Wuppertal · Der schrittweise Ausstieg aus der umfassenden Ab- und Einsperrung wegen des Corona-Virus beginnt. Mögen die dafür jetzt kommenden Maßnahmen sinn- und erfolgreich sein. Mögen nicht die Infektions- oder gar Sterbezahlen wieder in die Höhe schnellen, so dass die aktuellen Lockerungen erneut zurückgefahren werden müss(t)en. Das hätte katastrophale Folgen für die Wirtschaft – und für die noch immer mehrheitlich gute Akzeptanz-Stimmung in der Bevölkerung.
Dass nicht nur die Lehrergewerkschaft GEW, sondern auch Schuldezernent Stefan Kühn, der bekanntlich eine Menge von seinem Job versteht, den Schul-(Wieder-)Start sehr kritisch sieht, macht nachdenklich. Dass große Elektromärkte nun gegen ihren Ausschluss von den Lockerungen, die in NRW überraschenderweise auch Möbelhäuser beglücken, vor Gericht ziehen werden, dürfte klar sein. Mit Recht und mit Erfolgsaussichten – denn da geht es um gleichberechtigte Gewerbefreiheit.
Apropos Freiheit: Die Einschnitte in diese, mit denen wir alle seit Wochen konfrontiert sind, sind tief. Mich erstaunt es nicht, dass manch einer das nicht kommentarlos hinnehmen mag. Und wenn der Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein „Tacheles“, der übrigens alles andere ist als ein „Club der ewig Fordernden“, wie ihm in einem Leserbrief auf unserer heutigen Seite 2 unterstellt wird, sich gegen ein zurzeit generelles Demonstrationsverbot positioniert – oder die Initiative „Seebrücke“, die die Flüchtlingspolitik im Mittelmeer scharf kritisiert, gegen das (inzwischen vom Verwatungsgericht Düsseldorf gekippte, Anm. der Red.) Verbot einer (selbstverständlich angemeldeten) nur 15-köpfigen Demonstration mit Zwei-Meter-Sicherheitsabstand zwischen den Teilnehmern klagen will, ist auch das ihr gutes Recht. Und nicht etwa, wie es in eben jenem Leserbrief heißt, „Behördenbelästigung“. Denn Deutschland ist und bleibt – Corona hin oder her – kein An- oder Verordnungs-, sondern ein Rechtsstaat.
Absolut kein gutes Recht ist es dagegen, wenn offenbar dem autonomen Spektrum zuzuordnende Täter in das Büro des SPD-Bundestagsabgeordneten Helge Lindh einbrechen und die Räume schwer beschädigen. Als „Protest“ gegen die deutsche Flüchtlingspolitik im Mittelmeer. Es ist schändlich, mit einer solchen Aktion gerade den Mann zu „bestrafen“, der sich seit Jahren intensiv gegen Rechtsextremismus und für Flüchtlinge einsetzt. Dieser Vorfall zeigt, dass Corona keineswegs überall alte Denkmuster aufbricht und zu neuen Einschätzungen von gesellschaftlichen Situationen führt. Wenn ich unter diesem Aspekt an den „Autonomen 1. Mai“ denke, bei dem die übliche Demonstration selbstverständlich nicht angemeldet wird und entsprechende Polizeireaktionen hervorruft, habe ich absolut gar kein gutes Gefühl ...
Wo der Staat allerdings jetzt unbedingt (wieder) Stärke zeigen kann, nein muss, ist, wenn es darum geht, gleich den zweiten Hilfsgelddurchgang für die Gastronomie und die Menschen aus der selbständig-freien Kulturszene auf den Weg zu bringen: Von den Corona-Lockerungen nämlich haben diese für die Lebensqualität aller Städte so wichtigen Sektoren nichts. Restaurants, Kneipen und Cafés müssen weiterhin geschlossen bleiben. Veranstaltungen dürfen weiterhin nicht stattfinden – und die Kulturszene steht ohne die Möglichkeit von Einnahmen da.
Die Wuppertaler Rundschau steht, wie seit dem ersten Tag der Corona-Krise, an der Seite der Betroffenen: Wer immer Essen liefert oder per Abholung etwas anbietet, wer immer virtuell Musik, Theater oder vieles andere spielt und dabei für Spenden & Co. wirbt, kann sich auf Veröffentlichungen auf unserer Homepage oder in unserer Print-Ausgabe verlassen. Bitte Bescheid sagen und melden, falls wir jemanden oder etwas vergessen – wir können nicht alles „von selbst“ mitbekommen!
Ich sage: Wir dürfen in dieser Zeit einander nicht vergessen. Aber unsere Grundrechte auch nicht.