Rundschau-Thema "Mehr Wuppertal wagen!" Die haben das geschafft

Wuppertal · 21 Menschen gründeten am 6. Februar 2006 den Verein Wuppertalbewegung. Vor fast genau zehn Jahren wagten sie eine außergewöhnliche Wuppertal-Vision: 22 Kilometer der stillgelegten Rheinischen Eisenbahnstrecke, die sich von West nach Ost beinahe steigungsfrei durch die Stadt zieht, als "Nordbahntrasse" zum Fuß-, Rad- und Inline-Skate-Weg zu machen.

Volles Haus: Die Strecke auf Höhe des Zuganges Clausenstraße am 19. April 2015, dem Tag der Eröffnung des Bergischen Trassenverbundes, als 50.000 Radfahrer aus der Region und weit darüber hinaus in Wuppertal waren.

Foto: Christa Mrozek

Heute hat der Verein über 1.000 Mitglieder, die Trasse ist offiziell fertig — und hat die Stadt sowie die Art, wie ihre Bürger sie erleben, grundlegend verändert. Vor 20 Tagen, bei der Jahreshauptversammlung der Wuppertalbewegung am 10. Dezember, platzte die Unterbarmer Pauluskirche (mal wieder) fast aus allen Nähten. Wer da nicht mindestens eine Dreiviertelstunde vor Beginn vor Ort ist, musste stehen — wie in den vergangenen Jahren auch. Vereine, die über 250 Menschen zur Jahreshauptversammlung ziehen, kann man sonst lange suchen... Apropos "lange suchen": Was sagt der Duden zum Verb "wagen"? Ohne die Gefahr, das Risiko zu scheuen, etwas tun, dessen Ausgang ungewiss ist.

Das "Wagnis Nordbahntrasse" ist durch viele Höhen und Tiefen gegangen, es hat vor allem in seiner Anfangsphase Bürgerschaft und (auf den obersten Posten anfangs sehr unwillige) Stadtspitze beinahe gespalten. Dieses Stück Wuppertal, das weithin seinesgleichen sucht, zu wagen, hat insgesamt 24 Millionen Euro gekostet. Sämtliche (auch die kleinsten) Zahlen wird die Wuppertalbewegung 2016 komplett transparent ins Netz stellen.

"Mehr Wuppertal wagen" — das Motto klingt, als sei es für die Trasse erfunden worden. Das Verkehrsplanungsbüro Econex hat im Herbst eine Nutzer-Hochrechnung für die Strecke gemacht. Das Ergebnis: In den kommenden 30 Jahren werden auf der Trasse knapp 90 Millionen Radfahrer und Fußgänger unterwegs sein. Mehr als es Menschen in ganz Deutschland gibt ...

Zu Beginn waren die, die (laut Duden) etwas taten, ohne das Risiko des ungewissen Ausgangs zu scheuen, wenige. Oft waren sie auch allein. Erst sehr spät hat die damalige Stadtspitze das ungeheure Positiv-Potenzial des Projektes erkannt, die Zahl der Knüppel, die immer wieder zwischen den Radreifenspeichen landeten, reduziert — und ist mit fliegenden Fahnen auf den fahrenden Zug aufgesprungen.

Heute singen sie alle das Hohelied der Trasse. Auch und gerade die, die früher keinen Pfifferling auf die Idee gegeben haben. Mit Preisen überhäuft worden ist das Projekt außerdem: Das Land und der Bund verliehen Lorbeeren — zuletzt gab es sogar den "European Greenways Award", den "Oscar" der Radwege. Ein Glücksgriff war der städtische Trassen-Projektleiter Rainer Widmann: Ein integrativer Vermittler, der die 22-Kilometer-Vision mitdachte und mitfühlten. Ihm war die Idee, die alte Bahnstrecke umzuwandeln, nicht fremd — und er wusste, dass sie (schon wegen des Geldes, aber nicht nur deshalb) im Rathaus nicht durchzubekommen sein würde. Dafür brauchte es privates Engagement.

Die Wuppertalbewegung, die heute zu den größten, effektivsten und gesellschaftlich übergreifendsten Bürgerinitiativen der Stadt zählt, hat alle Widrigkeiten überdauert, alle internen (die gab es auch!) und externen Spannungen ausgehalten — und begegnet nun mit dem neuen OB Andreas Mucke einem Stadt- und Verwaltungs-Chef auf Augenhöhe. Wenn auch zwischen Mucke und Wuppertalbewegung-Ancor-Man Carsten Gerhardt sicher gut 20 Zentimeter Körpergröße liegen... Dass Mucke-Vorgänger Jung und Gerhardt quasi gleich groß sind, hat(te) jedenfalls in Sachen Augenhöhe wenig geholfen.

Mit Blick nach vorn gab es auf der Jahreshauptversammlung deutliche Ansagen: Die Wuppertalbewegung möchte eine Änderung des alten Vertrages mit der Stadt, nach dem sie auf 20 Jahre alleinige Betreiberin der Trasse sein müsste. Der Verein erwartet eine sechsstellige Rückzahlung nahe der Million von der Stadt. Und die Wuppertalbewegung hofft auf Stadt-Beamte, die sich wirklich für die Zukunft der Trasse engagieren. Oberbürgermeister Mucke, seit Jahren intensiver Trassennutzer, kommentierte das unter starkem Applaus kurz und bündig: "Klingt machbar!"

Und die Wuppertalbewegung möchte die Seitenarme der Trasse wachsen lassen: Etwa zwei Kilometer vom Bergischen Plateau übers Schwarzbach-Viadukt nach Langerfeld. Oder auf der alten Kleinbahnstrecke vom Loh hinauf nach Hatzfeld. Außerdem gibt's einen neuen, 700 Meter langen Abzweig Tesche im Westen, der den Weg zur Bahnstraße öffnet.
Außerdem steht noch viel Umfeldgestaltung an: Sitzbänke, Rastplätze, Aufstellung alter Loks als Blickfänge. Und ein neuer Beisitzerposten im Wuppertalbewegung-Vorstand hat nur einen Schwerpunkt — die Weiterentwicklung der unterschiedlichsten Flächen entlang der Strecke. Ein ohnehin längst stadtwirtschaftliches, stadtatmosphärisches und stadtentwicklungspolitisches Riesenthema, das lange Zeit komplett verschlafen worden ist.

"Mehr Wuppertal wagen" — was lehrt dabei die Trasse? Wer eine visionäre Idee für die ganze Stadt hat, braucht Liebe und Leidenschaft, Starrsinn und Hartnäckigkeit, Hunderte von Ehrenamtlern und den zweiten Arbeitsmarkt. Und unbedingt die Fähigkeit, private Sponsoring-Mittel in mehrfacher Millionenhöhe zu akquirieren.