Interview: Noch lange kein barrierefreier Alltag für Rollstuhlfahrer "Das wahre Leben findet nicht in Behörden statt"
Wuppertal · Sabine Neubauer ist Psychologin, sie arbeitet in der Beratungsstelle des Vereins "behindert — na und?". Die 56-Jährige leidet an der "Glasknochenkrankheit" und ist auf einen 110 Kilogramm schweren, großen E-Rollstuhl angewiesen.
Vor kurzem wurde ihr in einem Elberfelder Eiscafé, auf dessen Außenfläche sie Platz nehmen wollte, die Fahrt durch den Innenraum verwehrt. Rundschau-Redakteur Stefan Seitz sprach mit ihr über den (Wuppertaler) Rollstuhl-Alltag.
Rundschau: Kommt so etwas wie in dem besagten Eiscafé öfter vor?
Neubauer: Nein. Das war glücklicherweise ein absoluter Einzelfall. Und bei einem zweiten Besuch dort zusammen mit einer Gruppe von Bekannten ist dann auch alles unproblematisch gewesen. Allerdings hatte ja auch das WDR-Fernsehen schon über den Vorfall berichtet...
Rundschau: Wie läuft es überhaupt auf all den Wegen, die man jeden Tag zu machen hat?
Neubauer: Öffentliche Gebäude in Wuppertal sind fast komplett barrierefrei oder barrierearm zu erreichen. Aber das wahre Leben findet ja nicht in Behörden statt. Das große Problem sind und bleiben private Adressen, etwa Arztpraxen sowie fast der gesamte Sektor der Gastronomie und der Veranstaltungsorte. Die Restaurants oder Cafés, die für mich ohne Hilfe erreichbar sind, kann ich an einer Hand abzählen. Das gesamte Luisenviertel beispielsweise, das ich so liebe, ist für mich tabu. Überall gibt es Stufen. Und schon eine einzige davon bremst mich aus.
Rundschau: Könnte man sich nicht mit kleinen Aushilfsrampen helfen?
Neubauer: Theoretisch ja. Aber erstens scheuen viele Gastronomen die Anschaffungskosten. Und zweitens gibt es in diesem Fall sehr ärgerliche Vorschriften über den Neigungswinkel, den so eine Rampe haben muss. Da kann es sein, dass für nur eine Stufe eine drei Meter lange Rampe her müsste. Das ist dann schon ein ziemlicher Aufwand. Es wäre sehr hilfreich, wenn da Platz für mehr Improvisationsfreiheit und Fantasie wäre.
Rundschau: Wie sieht es in Sachen Theater, Film und Musik aus?
Neubauer: Die kleinen, coolen Filme, die ich sehr mag, laufen fast immer in kleinen Kinos in Obergeschossen. Und die sind oft nicht erreichbar. Im Opernhaus oder im Theater gibt es Rollstuhlplätze, aber da es so wenige sind, sind sie Monate im Voraus ausgebucht. Sich spontan ein Stück anzusehen, ist nicht möglich. Dabei gibt es immer mehr Rollstuhlfahrer, die keine Lust darauf haben, nur zu Hause zu sitzen, sondern im Gegenteil mitten im Leben an allen Möglichkeiten teilnehmen möchten.
Rundschau: Für Behinderte ist mit vielen Vorschriften ja vieles möglich gemacht worden. Bräuchte man noch mehr Regeln?
Neubauer: Für die Gastronomie wohl ja. Wenn es überhaupt machbar ist. Ansonsten wäre mehr Abwägung und Rücksicht gefragt. Das Thema Brandschutz etwa hat immer unangefochtene Priorität, verhindert aber beispielsweise wegen der vorgeschriebenen Treppenhausbreiten oft den nötigen Einbau von Treppenliften. Da fällt die Lebensqualität der Absicherung gegen Lebensrisiken zum Opfer. Eine ganz unselige Entwicklung.
Rundschau: Wie läuft es Ihrer Erfahrung nach in anderen Ländern?
Neubauer: Die USA zum Beispiel sind ein "Paradies". Wenn ich dort bin, überlege ich, was ich gerne machen will, und dann mache ich das. In Deutschland ist es genau umgekehrt. Oder Spanien: Ein Taxiunternehmer, der dort mehr als eine bestimmte Zahl Autos hat, muss eines davon mit einer Hebevorrichtung ausstatten. Und die Fahrt damit darf nicht mehr kosten, als in einem "normalen" Taxi. Deutschland war in den 80er Jahren einmal Vorreiter in Sachen Behindertenfreundlichkeit. Jetzt ist ziemlich viel Nachholbedarf aufgelaufen.