Barmer Verein „Leben in Vielfalt“ „Wir machen Inklusion andersherum“
Wuppertal · Der Kindergarten des Barmer Vereins „Leben in Vielfalt“ lebt Inklusion. Das Besondere daran: Hier sind die Kinder mit Behinderung in der Mehrheit. Und hier gelingt dieses viel beschriebene Miteinander besonders gut. Weil ja irgendwie jeder Mensch verschieden ist – Stärken und Schwächen hat.
Beginnen wir diese Geschichte mit Jojo. Jojo ist drei Jahre alt, wortgewandt, ziemlich hübsch. Nur seine Hände sind nicht richtig entwickelt. Viele Stärken, eine Schwäche. Und um seine Schwäche eben auszugleichen, ist er gerade bei der Physiotherapie, nicht im Anschluss an die Kita, sondern währenddessen.
Die Physiotherapie gehört zu seinem Alltag und die Besuche im Raum von Physiotherapeut Jannis machen ihm sichtlich Freude. Er springt Trampolin. Und klettert die Sprossenwand ganz nach oben. Mit Jannis macht er aus seiner Schwäche eine Stärke.
Jojo ist ein Kind, eine Geschichte von insgesamt 81 Geschichten kleiner Persönlichkeiten. 50 von ihnen haben Förderbedarf. Alle kommen jeden Tag auf den Berg an die Melanchthonstraße. Um in dieser besonderen Kita zu lernen und zu wachsen.
„Inklusion ist unser Leitgedanke. Kinder ohne Förderbedarf entwickeln sich gemeinsam mit Kindern mit jeglichem Förderbedarf. Einige Kinder haben eine Stoffwechselerkrankung. Andere sind sehbehindert oder im Rollstuhl, haben Verhaltensauffälligkeiten, eine geistige Behinderung, sind autistisch.“
Kita-Leiter Christoph Hartmann läuft den langen Flur entlang, den unzählige Bastelarbeiten säumen, auf dem aber auch medizinische Geräte stehen. Die Gruppenräume, Musik- und Turnraum, der Snoozelraum, Physiotherapie. Er zeigt diese bunte Welt auf 1.300 Quadratmetern, die ihn damals als Zivildienstleistender mitten ins Herz getroffen hat und in die er als Einrichtungsleiter vor einem halben Jahr zurückgekehrt ist.
So groß und vielfältig die Einrichtung ist, so weit reicht auch das Leistungsspektrum seiner Mitarbeiterschaft. Von der Kinderkrankenschwester bis zum Zirkuspädagogen. 15 Professionen arbeiten hier. Sie singen, turnen, fördern, versorgen, hören zu und halten fest. Und haben die Kinder auch vor und nach dem Kita-Alltag im Blick. Der eigene Fahrdienst holt die Mädchen und Jungen ab. Und die Mitarbeitenden stellen Anträge, damit nicht nur der Kindergarten, sondern auch die Eltern die Hilfsmittel bekommen, die den Kindern und ihnen den Alltag erleichtern.
Dieses Wissen über und diese Liebe zur Inklusion ist an der Melanchthonstraße lange gewachsen. Seit über 60 Jahren gibt es die Einrichtung. Früher nur mit Kindern mit Behinderung und Mitarbeitenden in weißen Kitteln. Heute inklusiv, aber eben ganz anders als man es üblicherweise kennt.
„Wir machen Inklusion andersherum“, sagt Nina Pohl als Geschäftsführerin. Hier sind die besonderen Kinder in der Überzahl. Und gerade deshalb gehen sie nicht unter. Und die Kinder ohne Beeinträchtigungen? „Sie sind Vorbild und gleichzeitig Lernende. Sie erfahren, wie vielfältig Leben ist“, sagt Christoph Hartmann.
Von einer Fördereinrichtung zum besonderen inklusiven Kindergarten – wohin geht die Reise in der Zukunft? „Wir wissen, dass sich diese besondere Kita im Zuge des Bundes-Teilhabe-Gesetzes verändern wird. Das Gesetz sieht vor, dass Kinder wohnortnah inklusiv betreut werden. Und das bedeutet, dass wir voraussichtlich weniger Plätze für Kinder mit Teilhabebedarf bereit halten dürfen.“ Die besondere Expertise und Förderung würde somit verloren gehen.
Zukunftssorgen, die Nina Pohl und Christoph Hartmann umtreiben, die an den Kindern im Hier und Jetzt vorübergehen. Denn das Jetzt bedeutet gerade Singkreis unter dem Weihnachtsbaum.
Beenden wir diese Geschichte also nicht mit Jojo, der gerade sein Trampolin mit Jannis über den Flur rollt. Sondern mit der großen Gemeinschaft. 30 Kinder und ein Musiktherapeut sitzen in einem großen Kreis unter einem Weihnachtsbaum. Ein Kind muss wegen seiner Epilepsie von einer Mitarbeitenden festgehalten werden. Ein anderes malt das Lied als Gebärde in die Luft. Ein weiteres kuschelt auf dem Schoß einer Mitarbeiterin, während sein Rollstuhl hinter ihm an der Wand lehnt. Manche von ihnen können nicht sprechen. Und andere singen den Text bis zur letzten Strophe mit. 30 kleine Menschen, die Weihnachtslieder singen oder zumindest spüren, jedes auf seine Art, alle von ihnen mit manchen Schwächen und unzähligen Stärken.