„Orpheus und Eurydike“ in Wuppertal Große Klangbilder von Liebe und Trauer
Wuppertal · Diesem Orpheus ist kein Liebesglück auf Erden mehr vergönnt. Und so lässt Pina Bausch auch den mythischen Sänger, der mit seinem Gesang die Furien milde werden lässt, am Ende sterben. 1975, in ihrer zweiten Spielzeit als Ballettdirektorin an den Wuppertaler Bühnen, hat die Choreographin „Orpheus und Eurydike“ als „Tanzoper“ inszeniert, die Liebe und Trauer als zentrale Momente unseres Daseins herausarbeitet. In Kooperation mit den Gluck-Festspielen in Fürth hat das Tanztheater das Werk jetzt neu einstudiert. Am Samstag (9. April 2022) ging im Opernhaus die umjubelte Premiere über die Bühne.
Die Geschichte ist ja recht einfach: Mit seinem betörenden Gesang überwältigt Orpheus die Götter und darf seine kurz nach der Hochzeit verstorbene Gattin aus dem Reich der Toten zurückholen – wenn es ihm gelingt, sich auf dem Weg nicht nach ihr umzusehen. Bekanntlich scheitert das Paar an dieser Bedingung, aber in der Opernfassung von Christoph Willibald Gluck und dessen Librettisten Ranieri de Calzabigi haben die Götter erneut ein Einsehen – gemäß den Opernkonventionen muss es ein glückliches Ende geben.
Pina Bausch hat diesen Schluss, der im Übrigen auch die konventionellste und am wenigsten inspirierte Musik des Werkes umfasst, kurzerhand gestrichen und lässt den Beginn des ersten Bildes wiederholen, aber mit einer entscheidenden Akzentverschiebung: Der Klagegesang gilt nun nicht mehr Eurydike, sondern dem Tod Orpheus‘. So wird die Oper zum bewegenden Klagegesang um Liebe und Verlust.
Wobei Pina Bausch in ihrer 1975 entstandenen „Tanzoper“ ohnehin keine greifbare Geschichte erzählt. Die drei Partien (Orpheus, Eurydike, der Liebesgott Amor – mehr Solisten gibt es bei Gluck nicht) werden jeweils von einem Sänger auf der Bühne und einem Tänzer verkörpert, die aber keineswegs synchron agieren – viel eher scheint es, als seien die tanzenden Personen aus den Körpern der singenden Personen herausgetreten. Im ersten Bild sieht man Eurydike als Braut auf einem schier unendlich hohen Stuhl sitzen, unerreichbar; gleichzeitig wird eine offenbar gestorbene Frau von den Tänzern über die Bühne getragen.
Ob es ein realer Tod ist oder ein symbolischer, weil die Liebe erstorben ist, das bleibt letztendlich offen. Die schleierartigen schwarzen Kleider der Tänzerinnen sind ziemlich durchsichtig, die Anzüge der Herren (die nicht viel darunter tragen) weit offen – in den Kostümen von Rolf Borzik, der hier erstmals für die Ausstattung eines Bausch-Tanzabends zuständig war, spiegelt sich das Spannungsverhältnis von Eros und Thanatos, von Liebe und Tod wider. Gott Amor erscheint als junges Mädchen wie eine Erinnerung an glücklichere Zeiten.
Borzik, Lebensgefährte und kongenialer künstlerischer Partner Pina Bauschs bis zu seinem frühen Tod 1980, taucht die Bühne in herbstlich mildes Licht; ein entwurzelter Baum ohne Blätter und vertrocknetes Laub unterstreichen die melancholische Grundierung. Zwischen schwarz und weiß setzen vor allem das Rot von Eurydikes Kleid und der Rosenstrauß im ersten Bild einen farblichen Akzent. Vor allem an ein paar Hebefiguren erahnt man die Herkunft vom klassischen Ballett, aus dem sich die Bewegungssprache ableitet, von dem sich Pina Bausch hier aber auch befreit. Der Spitzenschuh hat ausgedient; gleichwohl gibt es noch die Hierarchisierung zwischen Solisten und Ensemble. Den Umschwung zum Tanztheater sieht man hier noch nicht.
In der Premierenbesetzung singt Countertenor Valer Sabadus den Orpheus, und das betörend schön (bei manchen Spitzentönen vielleicht etwas matt), also ein Mann in hoher Stimmlage, wodurch die Figur androgyne Züge bekommt (in einigen Aufführungen wird nicht Sabadus, sondern die Mezzosopranistin Vero Miller singen). Pau Aran Gimeno (bis auf einen hautfarbenen Slip unbekleidet) tanzt die Partie sehr eindrucksvoll, wenn auch nicht mit der Unbedingtheit, die man von Dominique Mercy in Erinnerung hat.
Oper wie Choreographie nehmen die Perspektive des trauernden Orpheus ein, dadurch bleibt die Figur der Eurydike ein wenig unbestimmt. Ralitsa Ralinova überzeugt mit leuchtendem Sopran, Daria Pavlenko gestaltet die Partie tänzerisch ein wenig pauschal. Anna Christin Sayn singt mit sehr jung klingender Stimme den Amor, dem Emily Castelli tänzerisch Übermut und Unbekümmertheit mitgibt.
Am Pult des sehr guten Sinfonieorchesters wählt Michael Hofstetter überwiegend langsame und getragene, aus heutiger Sicht durchaus „altmodische“ Tempi – vermutlich lässt die Choreographie da nicht allzu viele Freiheiten. Glucks wunderbare Musik klingt dadurch recht statisch, weniger dramatisch, was mit dem durchaus ritualhaften Charakter des Tanzes entspricht. Der Chor (Einstudierung: Ulrich Zippelius) muss coronabedingt vom Orchestergraben auf die seitlichen Balkone ausweichen, bekommt die Abstimmung aber recht gut in den Griff. Gesungen wird sehr nuanciert, aber leider auch mit sehr viel Vibrato, was Einzelstimmen hervortreten lässt und nicht recht zum bewusst vibratoarmen Klang des Orchesters passt.
Im Detail lässt sich sicher noch einiges schärfen, wohl auch eine Folge der wegen etlicher Erkrankungen derzeit schwierigen Probensituation. Gleichwohl ist dies ein großer Theaterabend. Auch nach fast 50 Jahren hat die bis auf ganz wenige Details schnörkellose Choreographie, ein Mittelding zwischen Oper und Ballett, wenig von ihrer Wirkung verloren: Da entstehen ganz starke (Klang-) Bilder, die die auch heute unmittelbar berühren.