Nach Toreschluss - die Wochenendsatire Meine Relativitätstheorie

Wuppertal · Seit Einstein wissen wir ja, dass Zeit relativ ist. Zumindest theoretisch. Praktisch fehlten meinem Kleinhirn auf dem Gymnasium leider einige Gigahertz Rechenleistung, um Sätze zu verstehen wie: "Alle inneren Prozesse eines physikalischen Systems scheinen langsamer abzulaufen, wenn sich dieses System relativ zum Beobachter bewegt."

Rundschau-Redakteur Roderich Trapp.

Foto: Bettina Osswald

Das macht aber nichts, weil ich inzwischen eine eigene Relativitätstheorie entwickelt habe. Die lautet ganz einfach: Früh war früher viel später.

Ich kann Ihnen das am einfachsten am Beispiel eines Studenten erklären, der in der Regel während seiner akademischen Ausbildung nicht vor 10 Uhr aufsteht. Sie kennen in diesem Zusammenhang den legendären Satz des Wuppertalers Klaus Jürgen Haller, der als WDR-Moderator im Mittagsmagazin die Begrüßung "Guten Tag, meine Damen und Herren, guten Morgen, liebe Studenten" erfand. Für Studenten, die erst um 10 Uhr schlaftrunken aus der Tür ihres WG-Zimmers taumeln, ist beispielsweise 9 Uhr also sehr, sehr früh. Tritt der Student aber ins Berufsleben ein und muss um 8 Uhr arbeiten, dann ist 9 Uhr plötzlich relativ spät und beispielsweise 7 Uhr sehr früh. Früh war für ihn also früher viel später. Zeit ist folglich relativ.

Beweisen lässt sich das auch am Phänomen des Alterns: In der SPD ist man bis 35 Jahre ein Jungsozialist, während man im Tennis schon ab 30 bei den alten Herren oder Damen antreten kann. Es gibt also eine tiefe Verunsicherung im Hinblick auf die wahre zeitliche Verortung des Lebensstadiums, die ich analog zu Einsteins Zeitdilatation als Altersdilatation bezeichnen möchte. Die ganze Tragweite dieser Verunsicherung drückt sich übrigens auch darin aus, dass die Altersklasse Ü30 im Tennis "Jungsenioren" und "Jungseniorinnen" genannt wird. "Jungsenior" ist wie "Altbaby", "Riesenzwerg" oder "Flüsterkrach" — nämlich eigentlich unmöglich. Jungsenioren existieren aber nachweislich trotzdem, sie sind mithin der Lacoste-Hemd gewordene Beweis für die vollständige Krümmung von Raum und Zeit auf deutschen Aschenplätzen.

In den letzten Tagen hat uns die Relativität der Zeit übrigens auch ganz unmittelbar getroffen. Sollten Sie ähnlich wie ich im dünnen Sommerleibchen von Sturzregen und Sturm durch Wuppertal gekegelt worden sein, dann werden Sie wahrscheinlich auch gedacht haben: Früher war Spätherbst viel später. Und bestimmt haben Sie auch darüber gegrübelt, wieso eigentlich der Spätsommer spurlos verschwunden ist. Dank meiner speziellen Relativitätstheorie kennen wir die Antwort: Wahrscheinlich ist ein ältlicher Tennis-Jungsenior in die SPD eingetreten und damit gleichzeitig zum jungen Altsozialisten geworden, was zu einer schweren Erschütterung des Raum-Zeit-Kontinuums und zur Auslöschung des Spätsommers durch einen bislang unbekannten Frühherbst geführt hat.

Weitere Folgen sind noch nicht gar nicht absehbar, möglicherweise werden früh und spät sogar so relativ, dass alles durcheinander gerät. Dann beginnt nächstes Jahr im April der Spätling, die Winzer freuen sich über eine gute Frühlese, der Spätdienst beginnt vormittags und in Schwaben essen sie Frühzle. Außerdem gibt es morgens Spätstück — wobei das immerhin den Studenten bestimmt relativ gelegen käme ...

Bis die Tage!