Das China-Tagebuch - Teil 6 Wer bremst, hat keine Hupe

Früher gab es in China Millionen von Radfahrern. Die gibt es heute immer noch, aber hinzu gekommen sind Millionen von Autofahrern. In weiser Voraussicht hatten die sozialistischen Machthaber zwar allerorts breite Parade-Straßen angelegt, die jedoch auch mit zehn bis zwölf Fahrspuren regelmäßig überfordert sind.

Lichtermeer im sonntagabendlichen Verkehr in Peking. Auch kleinere Strecken können schnell mal drei Stunden dauern.

Foto: Hendrik Walder

Wer etwa abends um zehn Uhr im Bus durch Shanghai schleicht, wünscht sich den Verkehrsfluss am spätnachmittäglichen Robert-Daum-Platz herbei. Die langen Standzeiten vertreibt sich der chinesischen Autofahrer gerne mit Hupen, um völlig aussichtslos die vor ihm Stehenden zur Weiterfahrt zu motivieren.

Kreuz und quer begegnet sich der Verkehr — ohne sich zu berühren.

Foto: Hendrik Walder

Wenn es irgendwann denn doch zu einer Fortbewegung kommt, hupt er weiter, diesmal, um die hinter ihm drängenden Automobilisten zu warnen, dass er jetzt auf die scheinbar schnellere Spur wechselt. Faszinierend, dass diese gewagten Manöver meiner Beobachtung nach nie in Unfälle münden. Ebenso wenig wie die gerne hoffnungslos überladenen Lasträder umkippen, vielleicht haben sie aber auch einfach keinen Platz dafür.

Die Ladeflächen sind nicht groß, aber hoch. Chinesische Kleinlaster.

Foto: Hendrik Walder

Am gefährlichsten lebt man ohnehin (nicht nur) im chinesischen Nahverkehr als Fußgänger. Schon zweimal musste ich im letzten Moment zur Seite hechten, um das Tagebuch nicht mit einem Bericht über das chinesische Krankenhauswesen erweitern zu müssen. Ungewohnt sind beispielsweise die abendlichen Attacken lautloser und unbeleuchteter E-Bikes, die Crashs eher durch plötzliches Hupen als durch beherztes Bremsen zu verhindern suchen.

Als gefährliche Falle entpuppen sich auch Zebrastreifen, keinesfalls Schutzzonen für Zweibeiner, sondern vielmehr horizontal aufgemalte Zielscheiben für den motorisierten Verkehr. Wenn er denn mal rollt.