Bergische Uni Wuppertal Keine guten Jahre für die Demokratie

Wuppertal · Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Detlef Sack von der Bergischen Uni Wuppertal über Macht und Strukturen politischer Systeme.

Dr. Detlef Sack ist Professor für Politikwissenschaft, insbesondere Demokratietheorie und Regierungssystemforschung an der Bergischen Universität Wuppertal.

Foto: Friederike von Heyden

Die Welt befindet sich im Wandel. Klimakrise, Krieg und Corona belasten die Menschen weltweit, politische Systeme eskalieren, Führungspersönlichkeiten wie Wladimir Putin, Xi Jinping, Recep Tayyip Erdoğan, Georgia Meloni oder Viktor Orban bereiten mit ihren Aussagen und ihrem Handeln vielen Bürgerinnen und Bürger Sorgen.

„Es gibt Menschen, die persönlich ähnlich strukturiert sind wie diese Politikerinnen und Politiker, nur eben nicht die Möglichkeiten haben, es so auszuleben“, sagt Prof. Dr. Detlef Sack vom Lehrgebiet „Demokratietheorie und Regierungssystemforschung“ der Bergischen Universität. Das Psychologisieren von politischen Führern wie Putin etc. bringe wenig und sei zu kurz gedacht, formuliert der Politikwissenschaftler weiter, denn entscheidend für den Erfolg seien die dort herrschenden politischen Systeme.

Der Begriff der Macht ist komplex

Das Politiklexikon sagt: „Macht ist ein politisch-soziologischer Grundbegriff, der für Abhängigkeits- oder Überlegenheitsverhältnisse verwendet wird, das heißt, für die Möglichkeit der Macht-Habenden, ohne Zustimmung, gegen den Willen oder trotz Widerstandes anderer die eigenen Ziele durchzusetzen und zu verwirklichen.“

Politisch scheinen Machtmenschen mit ausgeprägtem Machtstreben auf dem Vormarsch zu sein, aber gehen tatsächlich Gefahren von ihnen aus? „Darauf muss man zwei Antworten geben“, sagt Sack, denn neben der Lexikondefinition nach Max Weber kenne die Politikwissenschaft sowie die Soziologie einen weiteren Machtbegriff, „der für meine Arbeit handlungsleitend ist. Das ist der von Michel Foucault (Paul Michel Foucault 1926 – 1984, frz. Psychologe und Philosoph), der nämlich sagt: ,Macht hat immer zwei Seiten.‘ Das ist einerseits die Über- und Unterordnung und zum anderen die Tatsache, dass Macht auch eine produktive Komponente hat. Macht befähigt eben auch Menschen, etwas zu tun, wenn sie sich versammeln, als Assoziation, als Souverän des Volkes, als Demokratie; dann ist es eine Ausübung von Macht, ein positiver Begriff von Macht.“

Zugleich sei es auch so, dass wenn Menschen durch Macht unterdrückt würden, andere Menschen diese Macht ausübten. „Der Begriff der Macht ist etwas komplexer“, sagt der Wissenschaftler, die Über- und Unterordnung und die Befähigung sich selber zu bestimmen, falle den Menschen nicht immer leicht. „Was wir jetzt gerade feststellen, ist, dass die letzten zehn Jahre keine guten Jahre für die Demokratie als politisches Herrschaftssystem waren“ beschreibt er die Situation. „Wir haben feststellen müssen, dass eine ganze Reihe von Demokratien gewissermaßen so etwas wie ein Abrutschen, eine Regression in autokratische Verhältnisse erfahren haben, auch in Europa. Ganz prominent ist beispielsweise Ungarn.“

Und wenn man das weltweit betrachte, müsse man sagen, dass wichtige, bevölkerungsreiche Staaten wie Indien oder auch Brasilien, in denen sehr viele Menschen in politischer Herrschaft leben, sich von Demokratie wegentwickelt haben. Zugleich sei zudem eine große Stabilität der wirtschaftsmächtigen Autokratie Chinas da, so, dass man sagen könne: „Autokratien haben in den letzten zehn Jahren gewissermaßen einen Vorteil errungen. Mehr und mehr Menschen in der Welt leben in autokratischen Verhältnissen.“

Macht in der Politik

Nach Foucault hat also Macht eine produktive Komponente und befähigt Menschen, etwas zu tun. „In der Politik ist sie wiederum sehr komplex“, erklärt der Fachmann. „Macht in einer demokratischen Politik, aber durchaus auch in der autokratischen Politik bedeutet Mehrheiten und Unterstützung zu gewinnen. Sie müssen für ihre Sache werben. Das machen sie, indem sie gewissermaßen Zuckerbrot und Peitsche benutzen. Das eine ist, dass sie sagen - und das wäre die Peitsche –: Ich habe die Machtmittel und mache euch, soziale Gruppen, von mir abhängig. Das andere ist tatsächlich das Zuckerbrot: Ich gehe auf euch zu, ich übernehme Verantwortung, ich kümmere mich um euch.“

Sack stellt klar, dass auch die autokratische Herrschaft keine sei, die blankermaßen brutal daherkomme, sondern eine, die immer wieder auch signalisiere, dass sie emphatisch und fürsorglich sei und Verständnis habe; nur eben für bestimmte Klientele. „Sie können Macht nicht ausüben, ohne das Zugehen auf andere Personen, ohne das Einbeziehen bestimmter sozialer Gruppen. Und dann obliegt es der politischen Bewertung, ob man das nun richtig oder falsch findet, wer da gewinnt und wer da verliert.“

Machtmenschen stützen sich auf Netzwerke von Eliten

Der Psychologe Michael Kraus von der Yale Universität sagt: „Nicht die Macht an sich verdirbt den Menschen. Es ist nur so, dass Macht einfach unsere wahre Natur zum Vorschein bringt.“ Politische Führer wie z.B. Putin, Xi Jinping, oder Erdogan versuchen seit Jahren erfolgreich, die Welt nach ihren Vorstellungen und ihrem Willen zu formen. Kann man Menschen, die kein Korrektiv mehr haben oder zulassen, politisch stoppen?

Professor Sack stellt in diesem Zusammenhang noch einmal klar, dass nicht die Personen an sich die Länder führen und sagt: „Das ist in der Regel nicht der Fall, sondern es ist so, dass wir es mit prominenten Führern aus Netzwerken von Eliten zu tun haben, und das ist sehr viel größer angelegt. In diesen Netzwerken können bestimmte Personen, bestimmte Eigenschaften, die sie haben, besonders zur Geltung bringen.“ In Bezug auf das russische und chinesische Regime komme noch dazu, dass diese Netzwerke von Eliten über Jahre bestehen und Loyalität untereinander entwickelt haben. „Da werden nicht nur die Eigenschaften einer bestimmten Person, sondern die Eigenschaften und Strategien, sich Ressourcen anzueignen, von spezifischen Elitennetzwerken bedient.“

Als Politikwissenschaftler sieht Sack die Psychologisierung einzelner Führungspersonen daher skeptisch. „Als Politikwissenschaftler muss ich sagen, politische Herrschaft erfolgt in unterschiedlicher Form und Machtnetzwerken, die bestimmte Klientele zusammenbringt, die autokratisch regieren. Das ist das, was ich untersuchen kann.“

Machtanalyse über Machtmittel

Machtmenschen legen besonderen Wert darauf, vor anderen überlegen, großartig, einzigartig und unerreichbar dazustehen. Im Mittelpunkt ihres Tuns und Redens stehen immer sie selber, ihre Ideen und ihre Erfolge. Sie schaffen es, Niederlagen in Erfolge zu verwandeln. Auf die Frage, wie man solche Menschen überhaupt noch erreichen kann, antwortet Prof. Sack prompt: „Ganz einfach: gar nicht“, und fährt fort, „wenn ich als Politikwissenschaftler einfach davon ausgehe, dass es sich hier um Personen mit bestimmten Eigenschaften handelt, die durch ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen die Möglichkeit haben, andere zu unterdrücken, dann würde ich bei den Machtmitteln ansetzen.“

Dann gehe es um materielle Grundlagen sowie die Legitimität dieser Herrschaftsform. Man könne sehen, dass bestimmte soziale Gruppen, das Auftreten politischer Führer wie Putin oder Bolsonaro als angenehm und erstrebenswert wahrnähmen. „Die Wahlen in Brasilien haben es jetzt wieder gezeigt, dass man sagen muss, dass relative große Teile der Bevölkerung eine autoritäre Führung durchaus als attraktiv ansehen.“

Demokratisierung von außen ist chancenlos

Jedoch sind Regierungssysteme wie in China oder Russland nicht mit den demokratischen Verständnissen in Europa zu vergleichen. Ob Demokratien überhaupt einen Einfluss auf Diktaturen haben, hänge nach Sacks Meinung davon ab, wie stark diese Diktaturen seien. „Stärke drückt sich einerseits über militärische Stärke und zum zweiten über wirtschaftliche Stärke bzw. einen großen Binnenmarkt aus. Deshalb blicken wir auf China.“ Das so genannte Reich der Mitte könne sich relativ viel erlauben, weil es so einen großen Markt habe, und zwar sowohl einen Produktions- als auch einen Konsumptionsmarkt. Von daher sind die Schwellen von außen, etwas machen zu können und zu wollen, relativ gering.“

Das sehe in Russland wiederum ganz anders aus, denn dort gäbe es zwar genügend Rohstoffe, der Konsumptionsmarkt sei aber vergleichsweise gering. Eine Demokratisierung von außen habe man in der Vergangenheit beispielsweise bereits bei kleineren Staaten wie dem Irak durch Militärinterventionen versucht. „In der Regel greift das viel zu kurz und hinterlässt dann meistens die Länder im Chaos. Eine Demokratisierung von außen wird es so nicht geben“, konstatiert der 57-Jährige, „sie ist wenig erfolgsträchtig.“

Vielmehr müsse man sich die Systeme genau anschauen und entscheiden, ob man sie als legitim ansehe, welche eigene Haltung bezüglich der Kooperations- und Handelsbeziehungen man habe und wie viel Raum Protestbewegungen hätten, die im Inneren des Landes stattfänden. „Es ist ja keineswegs so, dass Russland, China oder auch Iran so ohne innere Widersprüche so vor sich hin regieren. Wir wissen nur nicht, was schlecht ist und was nicht geht. Das ist Informationspolitik.“

Auch wir in Deutschland glaubten längst nicht alles, was die Bundesregierung sage. Jedenfalls sei China sicher ein Staat, der sehr interessant sei, denn „es ist eine eher alte Gesellschaft mit vergleichsweise jungen Personen. Die alten Menschen verarmen zusehends. China stellt einen innovativen Kapitalismus mit innovativen Produkten im IT-Bereich und genau diese IT-Leute sind in der Regel Leute mit einem hohen Bildungsgrad, die sich irgendwann sagen: ,Ich will da auch mitreden.‘

Das Problem dabei sei, dass das Land für diese aufstrebende Mittelschicht wenig Angebote habe. Der mit viel Aufwand aufrecht erhaltene Immobilienmarkt zum Beispiel böte für hochgebildete Familien mit einem Kind kaum Perspektiven. „Hinzu kommt“, erklärt Sack, „die KP-China ist keine homogene Partei. XI Jinping hat sie zwar versucht auf Linie zu bringen, und trotzdem hat er es mit drei Flügeln seiner Partei zu tun.“ Ein kritischer Blick auf die internen Widersprüche zeige bei genauem Hinsehen die Schwierigkeiten, mit denen es autokratische Staaten zu tun hätten. „Demokratisierung ist ein Prozess, der von innen durch innere Konflikte vorangetrieben wird.“

Rechtspopulistische Minderheiten in Europa

Demokratie bedeutet „Volksherrschaft“, das heißt, in der Demokratie ist das Volk die oberste Staatsgewalt. Die politischen Entscheidungen werden durch den Mehrheitswillen der Bevölkerung gefällt. Gerade wir in Deutschland wissen durch die Zeit der Nationalsozialisten, was passieren kann, wenn Rechtsextreme an die Macht kommen. Die Landtagswahl in Niedersachsen hat der AfD 10,9 Prozent gebracht und in Italien konnte der Mitte-rechts-Block eine klare parlamentarische Mehrheit erreichen. Die Fratelli d'Italia von Giorgia Meloni ging mit 26,0 Prozent als stärkste Einzelpartei aus der Wahl hervor. Geht da ein Rechtsruck durch Europa?

„Man muss zunächst einmal sagen, dass es sich nicht um 50-Prozent-Mehrheiten handelt“, beginnt Sack, „wir reden von Minderheiten! Wir reden über starke rechtspopulistische Minderheiten, aber auch 25 Prozent sind eine Minderheit. Es ist nicht einmal annähernd die Hälfte.“ Daher sei keine Panik angebracht. Man könne die Wahl für eine rechtspopulistische Partei auch nicht mit einem Erklärungsansatz erfassen. Klar sei, „es gibt diejenigen, die aufgrund verschiedener Prozesse in ökonomischer und sozialer Natur Verlusterfahrungen gemacht haben.“

In Deutschland hätten wir aufgrund der Wiedervereinigung nach wie vor die Auffassung vieler Bürgerinnen und Bürger, ihr Lebenslauf sei entwertet worden. „Das sind sogenannten Modernisierungsverlierer. Allerdings werden rechtspopulistische Parteien auch von Menschen gewählt, die tatsächlich Privilegien haben und nichts abgeben wollen. Das ist das, was wir als dominanzkulturelle Verhaltensmuster, gepaart mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit verstehen. Hier wird das eigene Privileg, das eigene Prestige als schützenswert angesehen, und das verteidigt man auch brutal gegenüber anderen Personengruppen.“ Rechtspopulisten werden also von unterschiedlichen sozialen Gruppen gewählt.

Krisen = Herausforderungen für Demokratien

Wir leben in schwierigen Zeiten. Klimakrise, Pandemie, Teuerung in allen Bereichen und die Menschen rufen der Regierung zu: „Tut was!“ Sind Regierungssysteme also auf solche Krisen überhaupt vorbereitet? „Wir haben Regierungen wie die Niederländische, die Französische und zum Teil auch die Schwedische, die relativ schnell auf Krisen reagiert haben“, zählt der Wissenschaftler auf. In Deutschland komme ein besonderes Problem dazu, und zwar das, eines föderalen Staates, in dem relativ viele Verhandlungen geführt werden müssten. „Der Vorteil davon ist, dass, wenn erst einmal durchverhandelt worden ist, alle das Ergebnis akzeptieren. Der Nachteil: es gibt einen Jahrmarkt der Vorschläge und den Versuch, jeweils die eigenen Vorschläge umzusetzen.“

Man müsse den Regierungen aber durch die letzten drei Jahre Corona und den russischen Angriffskrieg zugutehalten, dass es ein ausgesprochen hoher Druck war, unter dem sie standen. Für die Bundesrepublik kam zusätzlich noch eine ausgesprochen hohe Gasabhängigkeit von Russland dazu. „In der Energiepolitik haben Regierungen nachweislich Fehler gemacht, aber in einem relativ kurzen Zeitraum auch gelernt.“

Die Koalitionsparteien trügen als Regierungsverantwortliche im Konsens Entscheidungen mit. „Wir haben die FDP, die den Ausgaben sehr skeptisch gegenübersteht, dies aber mitträgt. Wir haben die Grünen, die dem AKW-Betrieb skeptisch gegenüberstehen, eine Richtlinienentscheidung aber mittragen usw. Das heißt ja, wir sind schlecht auf Krisen vorbereitet, weil wir uns Demokratie leisten und zwar sowohl im Bund als auch in den Ländern. Der Vorteil ist, dass es zwar sehr ruckelt und schüttelt, dann aber irgendwann auch ein relativ großer Konsens da ist.“