Leitender Landespolizeipfarrer Dietrich Bredt-Dehnen „Sexueller Missbrauch ist ein Massenphänomen“
Wuppertal / Düsseldorf · Auch der Missbrauchsfall von Münster weitet sich immer mehr aus: Aktuell sind schon 18 Tatverdächtige ermittelt, mindestens sechs Kinder sollen zu ihren Opfern zählen. „Sexueller Missbrauch ist ein Massenphänomen“, sagt dazu der Leitende Landespolizeipfarrer Dietrich Bredt-Dehnen im Interview mit ekir.de. Der 62-jährige Wuppertaler ist nah dran an den Ermittlungen.
Als Leiter eines Teams von sieben Polizeiseelsorgerinnen und Polizeiseelsorgern der Evangelischen Kirche im Rheinland ist er unter anderem für das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt zuständig, bei dem die Zentrale Auswertungs- und Sammelstelle für kinderpornografisches Material angesiedelt ist. Im Interview spricht er über die psychischen Gefährdungen für die Ermittler, die Notwendigkeit der seelischen Eigensicherung und die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens der traumatisierten Kinder.
Herr Bredt-Dehnen, seit zehn Jahren sind Sie in der Polizeiseelsorge tätig. Welchen Raum nimmt das Thema sexueller Missbrauch aktuell in Ihrem Berufsalltag ein?
Bredt-Dehnen: „Seit etwa einem Jahr macht es sicher drei Viertel meiner Arbeit aus, weil es sich zu einem echten Schwerpunkt entwickelt hat. Das liegt daran, dass ich auch für das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt zuständig bin. Und im LKA ist die Zentrale Auswertungs- und Sammelstelle für kinderpornografisches Material angesiedelt.“
Wie viele Menschen sind dort beschäftigt?
Bredt-Dehnen: „Wir, also vor allem die im LKA mit dem Thema befassten Ermittler mit mir als Unterstützer, haben es noch vor dem ersten großen öffentlichen Missbrauchsfall in Lügde geschafft, die Polizeiführung und die Landesregierung dazu zu bewegen, sexuellen Missbrauch zu einem kriminalistischen Schwerpunkt zu machen.vFrüher war das eine sehr kleine Gruppe von acht Personen. Und die haben immer schon gesagt: Wir stehen hier auf verlorenem Posten. Die Überzeugungsarbeit war dann nicht sehr schwer. Seit der Innenminister und die Polizeiführung die Bilder gesehen haben, war völlig klar, dass da etwas passieren muss. Seither ist der Bereich massiv angeschoben worden, sowohl personell als auch durch eine bessere technische Ausstattung. Im Moment arbeiten dort 57 Ermittlerinnen und Ermittler und es sollen an die Hundert werden. Und im ganzen Land ist die Zahl der Ermittler und Auswerter auf 400 vervierfacht worden.“
Im LKA arbeiten inzwischen auch nicht mehr nur Polizisten an dem Thema.
Bredt-Dehnen: „Das liegt natürlich auch daran, dass es nicht genügend Polizistinnen und Polizisten gibt. Die Decke ist einfach unglaublich kurz und wo gezogen wird, fehlt es dann an anderer Stelle. Deswegen werden jetzt auch verstärkt Regierungsbeschäftigte eingestellt. Und gerade für diejenigen ohne polizeilichen Hintergrund haben wir ein sehr klares Begleitungskonzept entwickelt. Der erste Schritt ist ein Einführungskurs darüber, wie man mit dem belastenden Material umgeht. Dann begleite ich die gesamte Abteilung auch im Alltag immer wieder. Entlastungsgespräche zwischendurch sind sehr wichtig. Und ab Juli bieten wir auch verbindliche Supervision an für alle, die dort arbeiten.“
Viele Polizisten wollen nicht im Bereich Kinderpornografie ermitteln. Was müssen Menschen wissen, die sich dennoch darauf einlassen?
Bredt-Dehnen: „Niemand wird schlecht angesehen, wenn er sagt, dass er sich das nicht zumuten will. Das ist auch richtig und unterstützenswert, wenn jemand das schon für sich selbst einschätzen kann. Sogar ein Todesermittler hat mal gesagt: Lasst mir bitte meine Leichen. Aber es gibt Gott sei Dank auch genügend Menschen, die diese Arbeit trotzdem machen wollen. Ihre Motivation ist zugleich das, was sie am meisten schützt: Sie sehen den klaren Sinn in ihrer Aufgabe, Kinder zu schützen, aus ihrem Martyrium zu befreien und die Täter zu stellen. Aber auch sie müssen wissen, was dieses potenziell traumatisierende Material, mit dem sie sich beschäftigen, mit ihnen machen kann. An diesem Punkt setzen ich und meine Kolleginnen und Kollegen ein. Wir haben alle eine beraterische Ausbildung, sind erfahren mit Kriseninterventionen und haben uns intensiv mit Psychotraumatologie beschäftigt. Wir sind keine Therapeuten, aber haben ein profundes Wissen darüber, wie wir mit Menschen arbeiten können, die solche potenziell traumatisierenden Erlebnisse haben.“
Was sind die größten Gefahren, die den Ermittlerinnen und Ermittlern drohen?
Bredt-Dehnen: „Sie werten Videos und Bilder von schwerstem sexuellen Missbrauch an Kindern aus. Das ist deshalb potenziell traumatisierend, weil es einen Bereich umfasst, der über das hinausgeht, was unser Vorstellungsvermögen bereit ist zu akzeptieren. Der Rahmen dessen, was wir als vorstellbar akzeptieren, ist für uns Erwachsene schon relativ groß. Bei Polizisten mit ihrer Berufserfahrung ist er noch mal viel größer. Aber jetzt haben sie es mit massiver sexueller Gewalt gegenüber Kindern, Hilflosigkeit, der Unmöglichkeit des Eingreifens und der Grenze zum Tod zu tun. Sie müssen lernen, sich davor zu schützen, indem sie diese Dinge antizipieren. Eine innere Stabilität ist sehr wichtig.“
Auch eine Form der professionellen Distanz, anstatt sich in das Schicksal der Kinder einzufühlen?
Bredt-Dehnen: „Es geht schon darum, dass sie empathisch bleiben. Polizisten verwenden zwar oft den Begriff des Abstumpfens. Ich interveniere dann meist und sage: Ich glaube nicht, dass du abgestumpft bist, sondern du hast gelernt, die professionelle Distanz aufzubauen, die dich rettet, damit du diese Arbeit machen kannst und stabil bleibst. Polizistinnen und Polizisten lernen vom ersten Tag ihrer Ausbildung an, dass Eigensicherung ihr Leben retten wird. Und wir haben das Stichwort der seelischen Eigensicherung eingeführt.“
Ist es ein Problem, dass die Betroffenen das Einräumen seelischer Verletzungen als Schwäche empfinden, die sie sich und anderen nicht eingestehen wollen?
Bredt-Dehnen: „Da findet im Moment innerhalb der Polizei ein wirklicher Paradigmenwechsel statt und zwar auf allen Ebenen. Nicht nur in diesem Bereich ist es für die allermeisten inzwischen völlig klar, dass sie sich bei belastenden Einsätzen professionelle Unterstützung holen müssen. Gerade erst war ich bei einem Einsatz dabei, wo eine junge Mutter mit ihrem Baby tödlich verunglückt ist. Der Dienstgruppenleiter hat schon in dem Moment, als er von dem Einsatz am Telefon erfuhr, das Kriseninterventionsteam zur Unterstützung angefordert. Vor ein paar Jahren wäre diese Form von Selbstverständlichkeit noch nicht denkbar gewesen.“
Welche Rolle spielt es in der Begleitung, dass Sie Theologe sind?
Bredt-Dehnen: „Das Wichtigste überhaupt ist ein hohes Vertrauen innerhalb der Gruppe. Daher unterstütze ich das Teambuilding auch sehr. Allen ist dabei klar, dass ich Pfarrer und nicht in die Hierarchie der Polizei eingebunden bin. Das ist ein hohes Gut. In Einzelgesprächen wird dieser Hintergrund auch immer wieder angefragt. Dass wir auch Theologen sind, wird aber in anderen Bereichen als dem Missbrauch stärker relevant, zum Beispiel, wenn wir einen Suizid in der Polizei begleiten müssen. Dann werden auf einmal Fragen gestellt, die Polizisten und Polizistinnen sonst so nicht stellen.“
Und welche Rolle spielt es für Sie persönlich, dass Sie Theologe sind?
Bredt-Dehnen: „Ich bin natürlich als Christ in dieser Arbeit unterwegs und für mich ist mein Glaube eine der stärksten Quellen für meine eigene Resilienz. Ich kann mich immer wieder vergewissern, dass Gott mit seiner Liebe das letzte Wort haben wird und nicht die Gewalt.“
Wie kommen Sie selbst damit zurecht, wenn Sie mit kinderpornografischem Material konfrontiert werden?
Bredt-Dehnen: „Ich gucke zwar auch immer wieder Bilder an, aber das ist ein Riesenunterschied. Ich mache das nicht täglich und wollte das auch nicht. Ich habe schon sehr stark gelernt, mir das von der Seele zu halten. Die Bilder verfolgen mich nicht und ich weiß auch, wo ich nicht hingucke. Aber ich kann die Menschen nur gut begleiten, wenn ich andererseits weiß, welche zerstörerische Kraft diese Bilder haben.“
Nach jedem neuen Fall gibt es zwei reflexartige Reaktionen: die Forderung nach schärferen Strafen und eine Dämonisierung der Täter. Dabei ziehen sich die Fälle von der linksliberalen Odenwaldschule über die Kirchen bis hin ins engste familiäre Umfeld. Geschieht der sexuelle Missbrauch mitten unter uns?
Bredt-Dehnen: „Absolut. Von Anfang an habe ich immer wieder betont, dass wir im Moment nur die Spitze des Eisberges sehen und es unglaublich wichtig ist, die Täterstrategien zu kennen. Wir liegen völlig daneben, wenn wir meinen, es handele sich dabei um irgendwelche sabbernden, alten, ekelhaften Männer, die in der Höhle sitzen und die Kinder zu sich reinzerren. Sexueller Missbrauch ist ein Massenphänomen. Polizeiliche und juristische Mittel sind dabei längst nicht alles, was gefragt ist. Es gibt eine breite Palette an notwendigen Veränderungen in unserer Gesellschaft: Welchen Stellenwert haben Kinder? Wo sind wir aufmerksam? Was ist nicht mehr akzeptabel? Da müssen Eltern, Erzieher und alle, die mit Kindern zu tun haben, viel aufmerksamer werden.“
Und wie gelingt es, überschießende Reaktionen zu verhindern?
Bredt-Dehnen: „Das ist nicht immer einfach. Auch die Ermittler und Ermittlerinnen überlegen: Kann ich eigentlich noch normal und ohne Schere im Kopf mit meinen Kindern oder den Nachbarskindern umgehen? Darf ich noch mit meinen Kindern in die Badewanne gehen? Die Gefahr ist, dass eine Natürlichkeit im Umgang verloren geht. Und überall, wo ich merke, dass die Reaktionen sehr ins Private hineinreichen, versuche ich, das zu hinterfragen und dazu zu ermutigen, darüber zu sprechen.“
Immer wieder gibt es die Beschreibung, dass selbst Kindern mit schwersten Missbrauchserfahrungen nichts anzumerken gewesen sei, sondern sie sich den Tätern sogar immer wieder freudig in die Arme geworfen hätten. Gibt es eine Erklärung dafür?
Bredt-Dehnen: „Die Täterstrategie ist sehr klar. Entweder sind es eigene Kinder oder Kinder aus dem engen Umfeld. Die allermeisten Übergriffe und Verbrechen geschehen im familiären und engen Freundeskreis. Wenn Kinder geschlagen und deshalb der Familie entzogen werden, wollen sie in vielen Fällen trotzdem wieder zurück. Viele Kinder haben auch Gewalt als Teil des elterlichen Umfelds so verinnerlicht, dass sie diese Gewalt fast schon als normal ansehen. So ist es leider auch mit sexueller Gewalt: Wenn Kinder sie von Beginn an erleben, erleben sie sie als normal. Denn sie werden ja auch nicht nur gequält und brutal misshandelt, sondern bekommen auf der anderen Seite auch Zuwendung und Geschenke. Und sie werden massiv unter Druck gesetzt: Wenn du das erzählst, kommt Papa ins Gefängnis und dann hast du keinen Papa mehr.“
Und die Folge ist, dass sie ihr Leiden nicht zu erkennen geben?
Bredt-Dehnen: „Alle, die mit Kindern zu tun haben, müssen wissen, welche Symptome Kinder zeigen. Und das sind nicht immer die, die wir uns klassisch vorstellen. Die gibt es zwar auch: Ein munteres Kind wird plötzlich schweigsam, nässt sich ein oder wird aggressiv. Aber andere Fälle machen sich nicht auf diese Weise bemerkbar und man bekommt es beispielsweise erst mit, wenn beim Kinderarzt Verletzungen im Intimbereich auffallen. Darum müssen auch Kinderärzte mit einbezogen werden. Um die Kinder muss ein ganzes Schutzsystem herumgebaut werden. Dafür gibt es schon gute Vorschläge.“
Haben missbrauchte Kinder Hoffnung auf Heilung?
Bredt-Dehnen: „Der Landesinnenminister, den ich übrigens in der Arbeit sehr schätze, hat gerade in einem Interview davon gesprochen, sexueller Missbrauch sei Mord an Kinderseelen. Ich verstehe natürlich die Intention, aber ich habe dem widersprochen. Denn das ist die reine Täterperspektive. Ich stelle mir vor, wie Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene das lesen, die sexuell missbraucht wurden: Was mich ausmacht, ist tot. Das ist nicht die Botschaft, die wir den Kindern geben dürfen. Im Gegenteil, wir müssen sagen: Ihr lebt und wir unterstützen euch dabei. Eure Seele ist schwer verletzt, aber es gibt Hoffnung, dass ihr mit einem stabilen Umfeld auch wieder lieben lernt und geliebt werdet und ein selbstbestimmtes Leben führen könnt.“
Kommen bei dem, was Sie tun, Ihre Hoffnung oder auch Ihr Glaube manchmal an ihre Grenzen?
Bredt-Dehnen: „Mein Glaube nicht. Mein Vertrauen in die Liebe Gottes ist sehr unerschütterlich und geerdet. Sonst hätte ich schon viel früher in meiner Arbeit als Gemeindepfarrer aufhören müssen zu glauben angesichts des Elends und der Abgründe, die ich dort gesehen habe. Aber ich komme schon an meine Grenzen, wenn ich sehe, was das für ein Moloch ist, mit dem man zu tun hat. Da schlägt man datenmäßig ein paar Köpfe der Hydra ab, aber es tauchen sofort zehn weitere auf. Das Netzwerk ist unendlich. Auch mit dem zehnfachen Personaleinsatz und den besten Möglichkeiten ist da nur ganz, ganz schwer ranzukommen.“
Die Missbrauchsfälle nehmen also nicht zu, sondern es wird nur sichtbarer, was es immer schon gab?
Bredt-Dehnen: „Die Fälle nehmen schon insofern zu, als immer mehr Leute durch die Datenspeicherungsmöglichkeiten und den Austausch durch das Internet Gefallen daran finden. Aber letztlich spiegelt das alles nur wider, was es schon Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte gibt.“