Wahlkampf in Thüringen Lindh: „Wir wissen erschreckend wenig voneinander“
Wuppertal · Die Landtagswahl in Thüringen ist vorbei – die Ergebnisse sind bekannt. Der Wuppertaler SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh wollte während des Wahlkampfes nicht „von draußen“ mitreden, sondern die Stimmung in dem ostdeutschen Bundesland tatsächlich kennen lernen. Am Wochenende vor dem Wahlsonntag war Lindh in Nordhausen und in Sondershausen. Rundschau-Redakteur Stefan Seitz sprach mit Helge Lindh über die Eindrücke aus Thüringen, woher Lindhs Familie mütterlicherseits stammt.
Rundschau: Haben Sie auffällige Unterschiede in Sachen Wahlkampf zwischen Ost und West erlebt?
Lindh: Die klassischen Instrumente wie Info-Stände, die auch im Westen nur noch zäh funktionieren, finden meiner Beobachtung nach im Osten quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Man bleibt unter sich. Es gibt eine spürbar deutlichere Entfremdung den Parteien gegenüber, als das im Westen der Fall ist. Auch Auftritte von Spitzenkandidaten wie Mike Mohring von der CDU oder von AfD-Mann Höcke ändern daran nicht viel. Beide waren in Nordhausen, als ich auch dort gewesen bin.
Rundschau: Gab es Proteste gegen den Höcke-Auftritt?
Lindh: Es waren vergleichsweise eher wenige Gegendemonstranten da. Allerdings auch nicht viele Höcke-Sympathisanten. Dass das aber kaum etwas über den Wahlausgang sagt, haben wir ja jetzt gesehen.
Rundschau: Die Wahlbeteiligung war sehr hoch. Eigentlich bedeutet das, dass extreme Positionen eher verlieren.
Lindh: Hier nicht. Die hohe Wahlbeteiligung zeigt meiner Meinung nach gerade das starke Misstrauen in unser demokratisches System. Das ist ähnlich wie in manchen westlichen Stadtteilen. Ich konnte bei Gesprächsrunden, bei Hausbesuchen und Info-Formaten live erleben, dass in der Stadt Nordhausen und in Sondershausen „auf dem Land“ kaum zu vermitteln ist, dass es Sinn macht, miteinander im politischen Gespräch zu streiten, dass solch eine Diskussionskultur die Demokratie gerade ausmacht. Man spürt große Frustration, eine tiefe Vertrauenskrise. Ich selbst habe mich, das muss ich sagen, dort gelegentlich gefühlt wie ein Exot.
Rundschau: Warum diese Frustration und Vertrauenskrise?
Lindh: Die Menschen, mit denen ich sprach, fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. Und zwar nicht etwa finanziell. Nein, das ist ein Gefühl des psychokulturellen Abgehängtseins. Was ich oft gehört habe: „Der Westen hat unsere funktionierende Industrie übernommen und zerschlagen.“ Die AfD greift das auf, tut andererseits so, als sei sie die Fortsetzung der Bürgerrechtsbewegung aus der Wende-Zeit. Die AfD versucht, mit den Mitteln der Demokratie die Demokratie in Frage zu stellen. Und dass die DDR ja gar nicht so schlecht gewesen sei, dieses Denken begegnet einem tatsächlich oft.
Rundschau: Darüber politisch zu diskutieren, klappt nicht?
Lindh: Das demokratische System wird von vielen, die ich in Thüringen getroffen habe, als zu langsam und als arrogant wahrgenommen. Es gibt eine Fülle von Misstrauen, bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. Das nährt Radikalismus und gefährdet die demokratischen Strukturen.
Rundschau: Wenn man nur auf Thüringen schaut, könnte man denken, die AfD, die dort besonders radikal ist, sei auf dem Weg zur Volkspartei. Wie haben Sie dieses Thema bei Ihrem „Wahlkampfbesuch“ erlebt?
Lindh: Viele Demokraten fragen sich, wie man Terrain wieder zurückgewinnen kann. Soll man demonstrieren? Es gibt aber große Hemmungen, denn die Folge sind oft heftiger Widerstand und Bedrohungen. Wer sich hier klar gegen Rechts positioniert, lebt nicht ungefährlich. Das ist eine bittere Wahrheit.
Rundschau: Was tun? Auch mit Blick auf weitere Wahlen.
Lindh: Die Menschen im Osten müssen sich klar darüber sein, dass unsere Gesellschaft sich verändert, was im Westen längst passiert ist. Und im Westen müssen die Brüche, die die Menschen im Osten erlebt haben, verstanden werden. Es nützt nichts, von „dummen“ Wählern im Osten zu sprechen. Man darf die Protestwähler nicht verloren geben. Sie sind wieder zurückzuholen, allerdings nur mit einem klaren Gegenentwurf.
Rundschau: Ihr Thüringen-Fazit?
Lindh: Es müsste viel öfter solche Besuche und Gegenbesuche geben. Eines habe ich gelernt: Wir sind zwar ein Land Deutschland, wissen aber erschreckend wenig voneinander. Da muss man tatsächlich von Parallelgesellschaften sprechen.