Bergische Uni Vom Vermissen der echten Gefühle

Wuppertal · „Jahr100Wissen“-Interview Leo Belardo, dem Lehrbeauftragten für Italienisch in der Fachgruppe Romanistik der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Bergischen Universität, zum 100. Geburtstag des Regisseurs Pier Paolo Pasolini.

Leo Belardo (Bergische Uni).

Foto: UniService Transfer

Was verbinden Sie persönlich mit Pier Paolo Pasolini, der am 5. März 100 Jahre alt geworden wäre?

Belardo: „In Italien wird Pasolini immer mit seinen Filmen verbunden und auch mit seinen zwei ersten Romanen ,Ragazzi di vita‘ und ,Una vita violenta‘. Ich verbinde ihn auch mit seiner Homosexualität, weil das ja auch ein Grund für seinen tragischen Tod war.“

Pasolini hat, man glaubt es kaum, nach Kriegsende als Volksschullehrer gearbeitet. Sein pädagogisches Geschick nahm vieles von dem vorweg, was man in den 70er Jahren als schülerorientierten Unterricht bezeichnete. Das Bekanntwerden seiner Homosexualität führte aber zu seiner Entlassung aus dem Lehramt. Fing die Unterstützung Benachteiligter, denen er sich zeitlebens widmete, da bereits an?

Belardo: „Ich glaube das begann schon früher, also nach dem Krieg. Er trat der kommunistischen Partei bei und lebte mit seiner Mutter in dem kleinen Dorf Casarsa della Delizia in Friaul. Das war eine sehr ländliche Gesellschaft zu der er zeitlebens Heimweh gehabt hat.“

Er war sehr sozialkritisch engagiert. Seine ersten Filme „Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß“ von 1961 und „Mamma Roma“ von 1962 sind bedeutsame filmische Umsetzungen seiner Vorstadtstudien, die ihm zum Teil internationales Lob der Filmkritik einbrachten. Wie gesellschaftskritisch waren diese Filme?

Belardo: „Diese Filme waren äußerst gesellschaftskritisch, schon durch ihre Machart. Sie spielen immer in Vororten von Rom, wo man aus der Ferne sieht, wie die Großstadt immer neue Gebäude baut, die Stadt also immer größer wird. Mich beeindrucken dabei die Bilder, die die Menschen auf dem Lande zeigen, die das Wachstum der Stadt als Zerstörung des traditionellen Lebens empfinden. Die Figuren sind alles arme Leute aus der Unterschicht, die oft keine Arbeit haben und ihre Gesichter sind immer sehr eindrucksvoll. Die Schauspieler sind alle Leien und wurden sorgfältig von Pasolini gewählt, der an besonderen Gesichtszügen interessiert war. Es sind keine Gesichter, die man normalerweise im Kino oder in Zeitschriften sieht. Sie sind sehr markant und sie stellen das Leben der armen Leute dar. Alle ihre Versuche, aus dieser Armut herauszukommen, scheitern. Man empfindet eine große Sympathie für diese Bevölkerungsschicht, für diese Benachteiligten des Fortschritts.“

Pasolini hat immer betont, dass er das Bürgertum hasse. Trotzdem setzte er sich in seinem Film „Teorema – Geometrie der Liebe“ genau mit dieser Gesellschaft auseinander. Warum?

Belardo: „Aus Kritik am Bürgertum hat er das gemacht. Er wollte zeigen, dass das Leben des mittleren oder kleinen Bürgertums von Beziehungen gekennzeichnet war, die nur auf der Berechnung des eigenen Interesses beruhten. Dieses Bürgertum unterdrückt wichtige Aspekte ihres Gefühlslebens.  Im Film geht es darum, dass eine plötzlich auftauchende Person eine bürgerliche Familie aus der Bahn wirft, indem er Liebesbeziehungen zu allen Mitgliedern dieser Familie hat. Nachdem diese Person wieder verschwunden ist, hat sich ihr Leben total verändert.“

In seinem schriftstellerischen Werk problematisierte Pier Paolo Pasolini den Niedergang der italienischen Gesellschaft der sechziger und siebziger Jahre und prangerte den neuen Faschismus in Italien an. Gegenüber den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit, der sexuellen Liberalisierung und zunehmenden Kommerzialisierung der Gesellschaft, blieb Pasolini auf kritischer Distanz. War er ein unbequemer Künstler?

Belardo: „Ja, er war ein unbequemer Künstler, ein linksgerichteter Regisseur und Schriftsteller. Seine Weltanschauung war den Linken sogar ein wenig zu rechts. Zum Beispiel wird in dem Episodenfilm ,La ricotta‘ ein Gedicht von ihm zitiert, dessen erste zwei Zeilen besagen: ,Ich bin eine Kraft der Vergangenheit, nur in der Tradition liegt meine Liebe.‘ Er nennt es eine Kraft der Vergangenheit, weil er das unverfälschte, spontane Leben der Dorfgesellschaften vermisst. Die industrielle Gesellschaft, die Stadtgesellschaft, die bürgerliche Gesellschaft zerstört dieses Leben, weil sie nur noch berechnend und auf ihre eigenen Interessen achten. Pasolini vermisst die echten Gefühle, die er in der ländlichen Gemeinschaft noch sieht und hat das auch immer in seinen Filmen behandelt. Er war unbequem. Ich erinnere mich, als in Italien die 68er Bewegung entstanden ist und die Universitäten besetzt wurden, hat Pasolini in einen berühmten Artikel im ,L’Espresso‘, das ist das italienische Pendant zum ,Spiegel‘, die Studenten kritisiert. Darin bezeichnet er die Studenten als Muttersöhnchen, also verwöhnte Kinder von reichen Familien und bezeugt Sympathie für diejenigen, die diesen Protest unterdrücken; also die armen Polizisten. Die Carabinieri kamen meist aus armen Schichten und brauchten für diesen Job keinen Schulabschluss. Das war eine Kritik der Linken, die er immer vertrat.“

Er befasste er sich mit Mythen und Legenden des abendländischen, aber auch des arabischen Kulturraumes und inszenierte schließlich seinen letzten Film, der bis heute auf dem Index vieler Länder steht: „Die 120 Tage von Sodom“, nach einem Roman von Marquis de Sade. 1976 verfügte das Saarbrücker Amtsgericht, dass bundesweit alle Kopien des Films zu beschlagnahmen seien. Die Saarbrücker Justizpressestelle begründete den Beschluss damit, dass der Film eine einzige „Aneinanderreihung brutalster Gewalt und Perversionen“ sei und „keine Spuren von Kunst“ erkennen lasse. 1977 hob das Landgericht Saarbrücken die Beschlagnahme mit der Begründung auf, der Film sei „weder gewaltverherrlichend noch pornografischen Inhalts“. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen die Entscheidung des Landgerichts Saarbrücken wurde dann 1978 vom Bundesgerichtshof in letzter Instanz verworfen. Die Kritik spricht von einem radikalen, trostlosen und erschütternden Film. Wie geht man heute mit diesem Werk um?

Belardo: „Ich glaube, dieses Werk gehört zum klassischen Werk des italienischen Kinos, aber das ist fast in Vergessenheit geraten in dem Sinne, als dass er oft zitiert, aber nicht angeschaut wird.  Der Titel auf Italienisch heißt. ,Salò oder die 120 Tage von Sodoma‘. Im Titel ist eine Anspielung auf das Buch von Marquis de Sade, aber im Wort Salò wird es mit dem Faschismus verbunden, denn Salò ist eine Stadt am Gardasee, die für eine Weile, während des 2. Weltkrieges, die Hauptstadt der faschistischen Marionettenregierung im von Nazis besetzten Italien war. Im Film geht es darum, dass eine Gruppe von hohen faschistischen Befehlshabern eine Gruppe von neun jungen Männern und neun jungen Frauen entführt und sie ganz kalt und gefühllos foltert und vergewaltigt. Sehr wenige gucken den Film, denn er ist sehr hart. Ich denke auch, dass es eher ein Film für Intellektuelle ist, als für das normale Filmpublikum. Pasolinis frühere Filme verlangten vom Zuschauer keine Vorkenntnisse, um den Film zu verstehen. In den ,120 Tagen‘ werden viele Philosophen zitiert, auch de Sade wird zitiert, und wenn man das als Zuschauer nicht weiß, kann man den Film nicht verstehen und reduziert ihn auf all die ekelhaften Elemente. Die Figuren stellen nicht sich selbst dar, sondern sind oft Metapher oder Allegorie von etwas Anderem. Sie sind Symbol für abstrakte Begriffe. Auch Szenen, die Gewalt ohne Grund zeigen, stoßen den Zuschauer ab. Ich selber habe diesen Film vor mehr als 20 Jahren auf Deutsch gesehen und da sind viele Zuschauer schon vorher gegangen, weil der Film einfach sehr hart ist.“

Pasolinis Tod gleicht einem Krimi, der bis heute nicht aufgeklärt ist und dem sein Filmkollege Michelangelo Antonioni beschied, er sei „im Grunde das Opfer seiner eigenen Roman- und Filmfiguren" geworden. Was war geschehen?

Belardo: „Pasolini hatte am Abend des 2. November einen jungen Mann in einer Bar angesprochen – oft hatte er Kontakt zu jungen Männern – hat mit ihm gegessen und ihn dann in seinem Auto mitgenommen. Sie sind ans Meer, Richtung Ostia gefahren. Der Beschuldigte gab später an, Pasolini wollte Sex, aber man konnte sich nicht auf den Preis einigen. Daraus resultierte ein Streit, er schlug Pasolini und ist dann mehrere Male mit dem Auto über ihn gefahren. Das ist die offizielle, gerichtliche Version. Die wurde schon damals angezweifelt, weil der junge Mann nicht sehr kräftig war und man spekulierte, dass es noch einen anderen Täter geben könnte. 30 Jahre später sagte der Verurteilte in einem Interview, er sei in einer Gruppe von Leuten gewesen und die hätten Pasolini umgebracht. Dabei könnte es um gestohlene Filmrollen gegangen sein, mit denen man den Regisseur um Geld erpressen wollte und an diesem Abend sollte vielleicht die Übergabe stattfinden. Verschwörungstheorien bestehen schon seit langem. Pasolini war auch ein unbequemer Journalist, seine Recherchen zum Mord am Präsidenten des staatlichen Energie-Konzerns ENI, Enrico Mattei, haben manchen Leuten nicht gepasst.“

Eine Rezeption seines literarischen Werkes, seiner theoretischen Schriften und seiner journalistischen Arbeiten setzte erst nach seinem Tod ein. Sein zunächst vergessenes Werk wird seit den 90er Jahren wiederentdeckt. Was interessiert uns heute daran?

Belardo: „Ich glaube, uns interessiert heute vor allem seine Kritik an der Vereinheitlichung. Der Verlust der Vielfältigkeit der Gesellschaft. Diese Bauern- und Dorfgesellschaft war je nach Region sehr unterschiedlich. Und Pasolini hat gesehen, dass diese Dorfkultur nicht mehr existierte, weil die Dorfbewohner in die Stadt gekommen sind. Daher sein Interesse an den Figuren der Unterschicht. Sie waren für ihn authentisch, urig und auch spontan. Und er sah, dass diese Gesellschaft auf dem Weg war, zu verschwinden, weil sie die Werte des Bürgertums übernahm. Und das sehen wir doch auch heute im Zuge der Globalisierung. Egal wo man in der Welt unterwegs ist, es wird alles gleich. Traditionen und Charakterzüge verschiedener Kulturen verschwinden.“