Bergische Uni Wuppertal Ausnahmezustand in Barmen

Wuppertal · Der Literatur- und Sozialwissenschaftler Michael Okroy über die vorübergehende Besetzung Barmens durch eine französische Armee-Einheit.

Historiker Michael Okroy.

Foto: UniService Transfer

Der politisch-militärische Konflikt um die Erfüllung der alliierten Reparationsforderungen nach dem Ersten Weltkrieg führte 1923 zur sogenannten Ruhrbesetzung. Wie kam es dazu?

Okroy: „Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg waren Deutschland von den alliierten Siegermächten durch den Friedensvertrag von Versailles (1919/20) harte und als ungerecht empfundene Reparationsleistungen als Entschädigung auferlegt worden. Für die aus einer Revolution hervorgegangene demokratische Weimarer Republik bedeutete dies eine von Beginn an schwere Belastung.

Dies nutzten die zahlreichen Feinde und Gegner der Republik, vor allem völkisch-nationale Kräfte, zu hasserfüllten Angriffen auf das parlamentarische System und seine politischen Repräsentanten. Als Anfang 1923 ein geringfügiger Lieferrückstand der Reparationen an Frankreich festgestellt wurde, bot dies den Anlass für die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Militäreinheiten.

Die französische Regierung unter Ministerpräsident Poincaré bestand aus wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Gründen aber auf einer vollständigen Erfüllung der Reparationsleistungen. Deren Umfang war enorm. So musste Deutschland an Frankreich im Jahr 1922 als Entschädigung 45.000 Tonnen Kohle und Koks liefern – pro Tag.“

Wie gingen die Alliierten denn vor?

Okroy: „Am 11. Januar 1923 rückten fünf französische und belgische Divisionen mit etwa 60.000 Mann in das Ruhrrevier zwischen Duisburg und Dortmund und – in nord-südlicher Richtung - Dorsten und Hattingen ein. Die Militärverwaltung verhängte einen sofortigen Ausnahmezustand und löste die preußische Schutzpolizei auf. Man besetzte unter anderem Rathäuser und Schulgebäude und erwartete wohl auch – wie zum Beispiel in Essen-Bredeney – offiziell und öffentlich am Rathausportal als ,Gäste‘ empfangen zu werden - und nicht nur kühl und distanziert im Dienstzimmer des Stadtoberhaupts.

Ein zentrales operatives Ziel der Besatzer war die Kooperation mit der Deutschen Reichsbahn. Sie sollte gepfändete Kohle nach Frankreich abtransportieren. Als sich diese durch passiven Widerstand verweigerte, übernahm die französische Militärverwaltung den Eisenbahnbetrieb in eigene Regie. Chaotische Verkehrsverhältnisse, Unfälle, Personalengpässe und Repressionen gegen streikende Reichsbahnangehörige und ihre Familien waren die Folge.

Übrigens: Den Besatzungstruppen gehörten auch zahlreiche Soldaten aus den afrikanischen Kolonien der Siegermächte Frankreich und Belgien an. Diese Männer waren nicht selten einem offenen Rassismus der deutschen Bevölkerung und schlimmen Verdächtigungen ausgesetzt: ein Nährboden für die damals im Zuge der alliierten ,Rheinlandbesetzung‘ organisierte Kampagne gegen die ,Schwarze Schmach’.“

Es gibt in der historischen Forschung die Ansicht, dass es dem französischen Premier Poincaré damals nicht nur um die Beibringung der Reparationsleistungen ging, sondern auch um eine Sonderstellung unter anderem des Ruhrgebietes unter französischem Einfluss. Kann man das belegen?

Okroy: „Raymond Poincaré, der zeitweilig auch die alliierte Reparationskommission leitete, galt als Hardliner. Seine Politik der ,produktiven Pfänder’ aus dem Ruhrgebiet, das heißt Kohle, Koks, Stahl und Holz, sollte die Durchsetzung der Reparationsleistungen zugunsten Frankreichs erzwingen, zumal die durch den Krieg zerstörte ökonomische Infrastruktur, zum Beispiel in Lothringen, dringend auf Kokskohle aus dem Revier angewiesen war.

Unbestritten ist aber auch, dass der Premier den Versailler Vertrag zugunsten Frankreichs verändern, also die Westgrenze Deutschlands nach Osten verschieben und damit den übermächtigen und aggressiven Nachbarn nachhaltig schwächen wollte. Die Ansicht, nach der Poincaré eine Sonderstellung des Ruhrgebiets anstrebte, geht auf eine Publikation aus den 1960er Jahren zurück und scheint heute, soweit ich das beurteilen kann, keine Rolle mehr zu spielen.“

England und die USA verurteilten die Besetzung. Warum?

Okroy: „Die Pläne der Alliierten für die Zukunft des besiegten Deutschlands waren sehr unterschiedlich. Beide lehnten die Besatzung ab. Großbritannien strebte eine Neuordnung des europäischen Kontinents im globalen Rahmen an. Darin sollte auch das bevölkerungsreiche, wirtschaftsstarke und kulturell impulsgebende Deutschland einen Platz finden können.

Die USA hatten den Versailler Vertrag nicht ratifiziert, sondern 1921 einen Separatfrieden mit Deutschland geschlossen, den ,Berliner Vertrag‘. Darin wurden unter anderem die Reparationsleistungen nicht wie 1919 in Versailles einseitig gegen Deutschland festgesetzt, sondern einem bilateralen Schiedsgericht überantwortet.“

Wie widersetzten sich die Menschen in den besetzten Gebieten?

Okroy: „Der Einmarsch der bis an die Zähne bewaffneten französischen und belgischen Einheiten in das Ruhrrevier löste in ganz Deutschland parteiübergreifend einen Sturm der Entrüstung aus – und zugleich eine Welle nationaler und nationalistischer Solidaritätsbekundungen gegen den „Erzfeind“ Frankreich. Die Reichsregierung unter Kanzler Cuno reagierte auf die Besetzung, indem sie die Bevölkerung zum ,passiven Widerstand’ aufforderte.

Das wurde in großer Geschlossenheit auch aus Überzeugung befolgt, vor allem von den Beamten, Angestellten und Arbeitern der Staats- und Kommunalbehörden, aber ebenso der organisierten sozialistischen Industriearbeiterschaft. Der Essener Bürgermeister Schäfer verweigerte etwa die Beschlagnahme von PKWs durch die Besatzungsmächte. Dafür wurde er verhaftet und zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Reichsbahnangehörige überführten über 1.000 Lokomotiven und 30.000 Güterwagen in das unbesetzte Gebiet und entzogen sie damit den Besatzern.

Kaufleute aus dem Ruhrgebiet beschlossen, keine Waren mehr an französische Militär- und Zivilpersonal abzugeben, Handwerker verweigerten ihnen die geforderten Dienstleistungen. Die Besatzungsmacht antwortete darauf mit scharfen Repressalien, unter anderem mit der Ausweisung und Abschiebung von rund 140.000 Männern, Frauen und Kinder in die unbesetzten Gebiete und der Einrichtung von Zollgrenzen und Personenkontrollen. Ein solcher Kontrollpunkt zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet war unter anderem der Bahnhof Vohwinkel.“

Welche Rolle spielte dabei das Wuppertal, das ja unbesetzt war?

Okroy: „Das grenznah zum besetzten Gebiet liegende Elberfeld spielte eine zentrale Rolle – und keine rühmliche! Von Anfang an waren die Grenzen zwischen passivem und aktivem Widerstand, zwischen berechtigter Wut und nationalistischem Ressentiment fließend. Ruhrindustrielle wie Stinnes und Krupp, ebenso die Reichsbahn, förderten so etwa anfangs die nachhaltige Störung der Eisenbahnstrecken im Ruhrgebiet durch gezielte Sabotage.

Elberfeld, das sich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg zu einem wichtigen Stützpunkt der noch unbedeutenden, aber aufstrebenden nationalsozialistischen Bewegung entwickelt hatte, wurde zum Ausgangspunkt zahlreicher gewalttätiger Sabotage- und Bespitzelungsaktionen, die sich gegen die Verkehrsinfrastruktur und gegen französisches Personal richteten. Ausgeführt wurden sie von einem Kommando, das aus rechtsradikalen ehemaligen Freikorpskämpfern bestand.

Zu diesen erklärten Republikgegnern und Demokratiefeinden zählten auch Erich Koch, Karl Kaufmann und Victor Lutze. Alle drei hatten Wurzeln im Wuppertal und bildeten den Kern der dortigen NS-Bewegung. Nur zehn Jahre später saßen diese Rechtsterroristen an entscheidenden Machtpositionen des Nazi-Unrechtsstaats: als NSDAP-Gauleiter in Ostpreußen, als „Reichsstatthalter“ in Hamburg und als Oberster Führer der SA. Die schleichende Zerstörung der Demokratie in Deutschland begann im Wuppertal bereits sehr früh.

Der ‚prominenteste‘ Saboteur und Aktivist war Albert Leo Schlageter. Auch er erhielt seine Instruktionen aus Elberfeld, wo sich im Umfeld der Reichsbahndirektion am Döppersberg ein so genannter „Abwehrausschuss“ gegen die Ruhrbesetzung etabliert hatte. Wegen mehrerer Sprengstoffanschläge auf Brücken und Schienenstrecken wurde der Rechtsterrorist von den Franzosen verhaftet, zum Tod verurteilt und in Düsseldorf hingerichtet. Seine militanten Aktionen stießen damals parteiübergreifend auf große Zustimmung.

Zeitweilig versuchte sogar die KPD, den rechten Saboteur für ihre Zwecke in Dienst zu nehmen. Die Trauerfeier für den von den Rechten zum ,nationalen Märtyrer’ verklärten Schlageter fand im Juni 1923 unter großer Anteilnahme der Bevölkerung, der Politik und der Kirchen in der Stadthalle auf dem Johannisberg statt. Seinen Sarg bedeckte die insbesondere in völkisch-nationalen Kreisen beliebte und als politisches Statement benutzte ehemalige schwarz-weiß-rote Reichskriegsflagge.“

Am 12. Juli 1923 wurde auch Barmen vorübergehend von einer französischen Armee-Einheit besetzt. Elberfeld blieb unbehelligt. Warum?

Okroy: „Barmen und Elberfeld, damals ja noch eigenständige Kommunen, lagen auf unbesetztem Gebiet. Nach Ausweis einer (mit aller quellenkritischen Skepsis zu lesenden) Chronik aus den 1950er Jahren rückten in Barmen am frühen Morgen des 12. Juli 1923, einem Donnerstag, mit „schrillen Signalen französischer Trompeten lange blaue Kolonnen durch die Straßen […] und ratterten Panzerwagen über das Pflaster“. Das Rathaus wurde besetzt, ebenso Verwaltungs- und Bankgebäude. Man schloss das Postamt, sperrte die Barmer Bahnhöfe und entwaffnete die Schutzpolizisten.

Der Grund war offenbar eine heftige Auseinandersetzung an der Ronsdorfer Grenze zwischen französischem Militärpersonal und deutschen Zollbeamten. Im Zuge der Fahndung und der Verhaftung dieser Beamten drangen die Franzosen vorübergehend – und irregulärer Weise - auf unbesetztes Gebiet vor. Elberfeld stand dabei nicht im Fokus der Fahndung.“

Wie lange war die französische Armee-Einheit im Tal, und was weiß man über die Zeit der Barmer Besetzung?

Okroy: „Bereits um die Mittagszeit des 12. Juli scheinen die französischen Soldaten laut der genannten Quelle wieder aus Barmen in Richtung Haßlinghausen abgezogen zu sein. Vermutlich unter Zwang wurden dabei Angehörige der Schutzpolizei und der Direktor der Barmer Reichsbank offenbar mit abgeführt. Nach einigen Tagen kehrten diese Beamten aber wieder zurück nach Barmen.“

Im Juli 1925 verließen die letzten belgischen und französischen Soldaten das Ruhrgebiet. Am 30. Juni 1930 wurden die letzten Gebiete des Rheinlands von den Alliierten geräumt. Am 1. Juli 1930 feierte man in ganz Deutschland den „Tag der Befreiung des Rheinlands”. Am selben Tag pflanzte der Barmer Verschönerungsverein gegenüber dem Kriegerdenkmal für die Gefallenen von 1864 und 1866 die „Befreiungseiche“, die aber im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Eine kleine weiße Tafel am Fuß des Baumes erklärte damals:
„Gepflanzt wurde ich an jenem Tag,
Wo der Rhein ward frei und zu Ende die Schmach.
Nun will ich hier wachsen, blüh’n und gedeih’n,
Für die Mitwelt und Nachwelt ein Mahnzeichen sein.“
Wo kann man sich eigentlich als Bürger über die Geschichte der Barmer Besetzung informieren?

Okroy: „Bis auf einen 1992 publizierten und sehr materialreichen Aufsatz des ehemaligen Wuppertaler Stadtarchivdirektors, Dr. Uwe Eckardt, ist das geschichtlich so bedeutende Jahr 1923 aus lokaler und regionaler Perspektive bis heute ziemlich unterbelichtet geblieben. Derzeit ist aber eine Ausstellung dazu in Vorbereitung, die ab November 2023 in Barmen besucht werden kann und auf die ich schon sehr neugierig bin.

Allen, die sich speziell für die Besetzung Barmens am 12. Juli 1923 interessieren und darüber mehr erfahren wollen, empfehle ich einen Besuch des Wuppertaler Stadtarchivs und die Lektüre der damals erschienenen Tageszeitungen. Die Geschehnisse lassen sich mit diesen Quellen – aus zeitgenössischer Perspektive und auf ereignisgeschichtlicher Ebene - überaus anschaulich rekonstruieren. “