Bergische Uni Wuppertal „Erreichbare Alltagsziele ohne eigenes Auto“
Wuppertal · Prof. Dr.-Ing. Ulrike Reutter von der Bergischen Uni über Blitzer, ein klimafreundliches Geschwindigkeitsniveau und eine nachhaltige Mobilität für Wuppertal.
„Ich lebe autofrei“, sagt Ulrike Reutter, Professorin für Öffentliche Verkehrssysteme und Mobilitätsmanagement an der Bergischen Universität, „das heißt, unterwegs bin ich entweder zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Zug oder auch mal mit dem Taxi.“
Nach Einschätzung eines Berliner Anwaltsbüros ist Wuppertal heute die Stadt der Blitzer. Mit durchschnittlich 48 Blitzern pro Tag je 1.000 Hektar Straßenfläche hat die Stadt im Bergischen Land die bundesweit höchste Blitzerdichte. 6,5 Millionen Euro fließen so in die immer klamme Stadtkasse und bescheren ein einträgliches Zubrot.
Diese Kontrollen seien offensichtlich nötig, sagt Reutter. „Im ÖPNV ist das ja auch völlig normal: dort wird das gültige Ticket kontrolliert. Auch beim Parken wird kontrolliert, ob ich bezahlt habe oder nicht, und genauso müssen auch Geschwindigkeitsregelungen kontrolliert werden, weil sie erstens sinnvoll sind und zweitens sonst kaum eingehalten werden.“
Ungerecht findet die Wissenschaftlerin dabei, dass das Überschreiten der Geschwindigkeit eine Ordnungswidrigkeit darstelle, das Schwarzfahren im ÖPNV hingegen eine Straftat sei. „Schwarzfahren kann sogar mit Gefängnis bestraft werden, wenn man die Strafe vorher nicht bezahlt. Nach meinem Rechtsempfinden ist das völlig unverhältnismäßig und müsste dringend geändert werden. "
Geschwindigkeitsbegrenzungen begegnen uns allerorts, doch viele Autofahrerinnen und Autofahrer stehen diesen Tempolimits kritisch gegenüber. Dabei verhindere langsames Fahren nicht nur Unfälle, es verringere die Schadstoffbelastung, reduziere den Verkehrslärm, dämme den Flächenverbrauch ein, verbessere die Aufenthaltsqualität und trage insgesamt dazu bei, dass die Städte lebenswerter werden, so die Wissenschaftlerin.
„Bei den verschiedenen Schadstoffarten unterscheiden wir solche, die lokal wirken, also zum Beispiel Stickoxide und Feinstaub, und die Treibhausgase, die global wirken“, erklärt Reutter. „Direkt im Straßenraum wirken die Auspuffabgase und der oftmals in der öffentlichen Diskussion unterschätzte Bremsen-, Reifen- und Fahrbahnabrieb. Stickstoffoxide, Feinstaub und weitere Schadstoffe aus diesen Quellen des motorisierten Verkehrs sind stark gesundheitsgefährdend und greifen die Atemwege an – vor allem von Kindern, älteren Menschen und Menschen mit geschwächtem Immunsystem.“
Hinzu komme das Kohlendioxid als klimaschädliches globales Problem, das eng mit unserem Energieverbrauch und damit den gefahrenen Geschwindigkeiten zusammenhänge. „Sowohl bei den lokal als auch bei den global wirkenden Schadstoffarten spielt die Geschwindigkeit der Fahrzeuge eine große Rolle – weswegen langsame Geschwindigkeiten im Stadtverkehr und deren Überwachung vollkommen richtig und sinnvoll sind.“
Die Autos auf unseren Straßen werden dagegen nicht nur immer schneller, sondern auch breiter, länger, höher und schwerer - jede Fußgängerin und jeder Fußgänger kennt die Begegnung mit einem SUV, an dem man nicht vorbeischauen kann.
„Es kann aber nun nicht sein, dass für diese Fahrzeuge die Straßen und Städte umgebaut werden, sondern die Fahrzeuge müssen sich an den baulichen und städtebaulichen Bestand anpassen. Das bedeutet, dass enge Innenstädte, verwinkelte Stadtquartiere, Wohnstraßen, auf denen Kinder spielen, für diese großen SUV verboten werden müssten, denn die Qualität unserer Städte ist nicht mit diesen Fahrzeugen vereinbar. Und auf allen anderen Straßen muss die Geschwindigkeit stadtverträglich verlangsamt werden. Zur Reduzierung von Unfällen, der Schadstoffbelastung und des Verkehrslärms, um Energie zu sparen, das Klima zu schützen und unsere Städte an den Klimawandel anzupassen, bin ich ganz klar der fachlichen Meinung, dass wir ein erheblich heruntergezoomtes Geschwindigkeitsniveau brauchen: Innerorts Tempo 30, außerorts Tempo 80 und auf der Autobahn 100 bis maximal 120. Eine reduzierte Fahrgeschwindigkeit des motorisierten Individualverkehrs ist in jedem Fall eine richtige Maßnahme“, sagt die Fachfrau.
Autofreie Zonen: Beispiel Laurentiusplatz
Statt innerstädtische Geschwindigkeitsverletzungen mit hohen Gebühren zu ahnden, könnte man auch großflächig autofreie Zonen schaffen, die die Innenstädte gänzlich von Schadstoffbelastungen schützen könnten. Der autofreie Laurentiusplatz bietet in Wuppertal ein Beispiel. „Wir brauchen solche Zonen, wie am Laurentiusplatz, allein schon als positives Beispiel, denn es zeigt, welche Stadtqualitäten damit verbunden sind.“
Mittlerweile wisse man aus bundesweiten Studien, dass viele Menschen, die in solchen Quartieren wohnten, oft gar kein Auto mehr besäßen, doch Reutter ist sich im Klaren, dass man auch Autofahrerinnen und Autofahrer, die ihr Gefährt behalten möchten, in diesen Quartieren berücksichtigen müsse. Für diesen Transformationsprozess, der ein langer Weg sei, bedürfe es vieler Beteiligungen und Öffentlichkeitsarbeit, um das Konzept der autofreien Innenstädte umzusetzen.
Wie so etwas gelingen könne, erklärt Reutter am Beispiel der Wegstrecke eines Quartiersanwohners zur ÖPNV-Haltestelle. Dieser Weg dürfe nicht länger sein, als der Weg zum Parkplatz oder der Quartiersgarage. Natürlich gebe es auch Ausnahmen, die man aber definieren könne. „Man kann Zeiten definieren, an denen man hineinfahren kann. Oder man definiert die Zufahrt nur noch für bestimmte Fahrzeuge, also zum Beispiel. für Anwohnerinnen und Anwohner, mobilitätseingeschränkte Menschen oder zum Be- und Entladen, aber eben nicht mehr zum Parken. Geparkt wird stattdessen in bestehenden Parkhäusern oder Quartiersgaragen“, erklärt die Raumplanerin. Damit die Alternativen zum Autoverkehr attraktiv und erlebbar würden, brauche man aber vor allem eines: Zeit und Gelegenheit zum Ausprobieren.
Diebstahlsichere Fahrradständer und begrünte Innenstadtflächen
Momentan stellen sich viele fahrradfahrende Quartiersbefürworter die Frage, wo sie ihren oft teuren Drahtesel sicher abstellen können. Witterungsbeständig, ebenerdige und diebstahlsichere Unterstellmöglichkeiten gibt es ebenso wenig wie auch nahe gelegene Quartiersgaragen für PKW. „Solche Fahrrad-Abstellmöglichkeiten brauchen wir im Straßenraum“, fordert Reutter, um die Attraktivität solcher Räume zu stärken. „Es müsste auch normal sein, dass die Straßen besser begrünt werden. Auf dem Laurentiusplatz gibt es zwar schon Bäume, aber das ist noch nicht überall selbstverständlich. Wenn wir allein an das ganze Thema Zunahme von Hitzetagen und Hitzeperioden denken, brauchen wir dringend auch im Tal Abkühlungszonen. Da können Pflanzen sehr hilfreich sein.“
Ein interessantes Konzept der Stadtplanung, das bereits in Freiburg umgesetzt wird, ist die sogenannte Schwammstadt. Dabei wird anfallendes Regenwasser in Städten nicht mehr kanalisiert und in Bäche und Flüsse abgeleitet, sondern gespeichert und den innerstädtischen Grünflächen wieder zugeführt.
Veränderungen durch einfachere Strukturen im ÖPNV
Ulrike Reutter forscht an den Grundlagen zum Verständnis von Veränderungsprozessen im öffentlichen Verkehr und weiß, dass jede Veränderung lange dauert. Das Umsetzen von Bussonderspuren oder Spuren für Schnellbusse sind nur zwei Beispiele, die die Neuaufteilung des Straßenraums betreffen, ganz zu schweigen von den finanziellen Anforderungen. „Man muss also mutig sein und sich trauen, sowohl die Straßenfläche als auch das Geld im Verkehr ganz anders zu verteilen“, formuliert sie.
Auch die unterschiedlichen ÖPNV-Tarifstrukturen der Städte und Länder müssten vereinfacht und nutzerfreundlicher gestaltet werden. Begeistert zeigt sich die Wissenschaftlerin deshalb über die Einführung des bundesweiten 9-Euro-Tickets. „Wenn man so ein einfaches Ticket in die Welt gibt, zeigt das, dass dann der ÖPNV auch von Menschen, die ihn bisher nicht genutzt haben, gerne angenommen wird. Daher denke ich, die Politik wäre gut beraten, wenn sie diese einfache Struktur – auch mit einem etwas höheren Preis als 9 Euro im Monat – beibehält: mit einem Ticket, das es mir erlaubt, den ÖPNV, ohne groß über den bisherigen Tarifdschungel nachzudenken, in Wuppertal oder Dortmund, aber auch im Hunsrück, Kassel oder Leipzig zu nutzen.“
Nachhaltige Mobilität
„Für mich bedeutet eine nachhaltige Mobilität, dass die Menschen möglichst auch ohne eigenes Auto mobil sein können“, sagt Reutter, „dass sie gut zur Arbeit kommen, einkaufen können, dass ihre Kinder, alleine in die Schule gehen können und dass attraktive Freizeiteinrichtungen, Parks und Naherholungsgebiete auch am Wochenende gut mit dem Öffentlichen Verkehr erreichbar sind. Gerade mit unseren aktuellen Herausforderungen an Energieeinsparung, Klimaschutz und Klimaanpassung muss auch der Verkehrssektor seinen Beitrag leisten.“
Restriktionen für den Autoverkehr seien dafür unerlässlich, PKW in den Innenstädten dürften keinen Vorrang mehr gegenüber nachhaltigeren Verkehrsmitteln haben. „Zum Beispiel sind Einkaufszentren auf der grünen Wiese, wo ich nur mit dem Auto hinkomme, nicht nachhaltig. Oder auch die Fahrt mit dem PKW zum Bäcker bedeutet einen enormen Energieaufwand, und das alles, um vielleicht drei Brötchen zu kaufen? Wenn wir im öffentlichen Verkehr, im Fuß- und Fahrradverkehr zu einer definitiv nachhaltigeren Nutzung kommen wollen, brauchen wir gute Angebote für die Verkehrsmittel des Umweltverbundes – also Fußverkehr, Fahrrad, ÖPNV und Carsharing – und gleichzeitig Beschränkungen und Kosten für die Nutzung des Autos.“
Vorzeigebeispiele gibt es schon
Bereits heute gibt es Städte, weiß die Wissenschaftlerin, die die verkehrsplanerischen, rechtlichen, politischen und nachhaltigen Anforderungen des öffentlichen Verkehrs der Zukunft am besten umsetzen. „Seit vielen Jahren ist da natürlich die Stadt Zürich in der Schweiz zu nennen, ein Erfolgsbeispiel, das zeigt, dass ein langer Atem in der ÖPNV-Planung sich auszahlt. Zürich ist, was den ÖPNV angeht, seit Jahrzehnten sehr gut aufgestellt.“
Freiburg im Breisgau gehöre auch dazu. In Freiburg werde konsequent die Politik verfolgt, vor jeder Planung eines neuen Wohngebiets als erstes eine Straßenbahnlinie dorthin zu bauen. „Wenn Menschen dort einziehen, ist der qualitativ hochwertige öffentliche Verkehr bereits nutzbar. Dieses Angebot prägt die Gewohnheit, den Umweltverbund zu nutzen, von Anfang an.“
Und dann sei da noch die kleine Stadt Offenburg zu nennen, wo es schon seit einigen Jahren ganz viele „Mobilpunkte“ gebe. „Das sind Orte, besondere Haltestellen eben, wo ich von einem aufs andere Verkehrsmittel problemlos umsteigen kann, ohne lange Wartezeiten in Kauf zu nehmen“, erklärt Reutter. „Das funktioniert im Zusammenspiel aus Bus und Bahn, Taxi, Fahrradparkhaus und Fahrradverleih, E-Scooter-Verleih und Carsharing – je nach der Größe des Verknüpfungspunktes. In NRW heißt die Dachmarke dafür ,Mobilstation‘. Und im besten Fall sind alle Dienstleistungen wie zum Beispiel der Stellplatz in der Fahrradgarage, das Ausleihen eines Pedelecs oder das Rufen eines On-Demand-Busses über eine einzige App buchbar. Ganz konkret bearbeiten wir gerade ein Forschungsprojekt, in dem wir gemeinsam mit Partnern ein Konzept für die Elberfelder Nordstadt erarbeiten und in der Mirke eine erste Mobilstation umsetzen werden.“
Ohne die Partizipation der Bevölkerung geht im Bereich Nachhaltigkeit gar nichts, weiß die Wissenschaftlerin und sagt: „Wir brauchen autofreie, autoarme und verkehrsberuhigte Quartiere. Und wir brauchen Vorbilder, die die Vorteile der nachhaltigen Stadt erlebbar und erfahrbar machen. Das geht nur in demokratischen Prozessen mit Beteiligungsformaten, Mitmachaktionen und Öffentlichkeitsarbeit. Dann können sich die Einstellungen in den Köpfen und Herzen der Menschen und damit auch ihr Verhalten verändern.“