Theater am Engelsgarten Vom Leben in lausigen Löchern
Wenn Franz Xaver Kroetz auf dem Spielplan steht, ist klar: Heute keine heile Welt. Der linke bayerische Bürgerschreck geht gern dahin, wo‘s richtig wehtut, zieht Hosen herunter, hebt Röcke und Bettdecken, erspart seinem Publikum nichts. So auch in „Der Drang“, einem 100-Minuten Dreiakter von 1994, der jetzt im Theater am Engelsgarten Premiere hatte.
Hilde (Maresa Lühle – mal wieder in Wuppertal!) und Otto (Stefan Walz) sind kein glückliches Ehepaar, haben eine Friedhofsgärtnerei (und eine Tochter, die aber im Stück nie auftaucht) sowie die Mitarbeiterin Mitzi (Philippine Pachl). Das auf dem Level „Otto darf einmal die Woche, wenn er lieb ist, zweimal, bei Hilde ran“ eingefahrene Leben kommt mächtig durcheinander, als Fritz (Konstantin Rickert) auftaucht. Der ist Hildes Bruder, war wegen Sado-Exibitionismus im Gefängnis, muss den Sexualtrieb unterdrückende Psychopharmaka nehmen – und will irgendwie wieder ins „normale“ Leben zurück. Mit Fritz’ Erscheinen kommt frischer Wind auf den Friedhof. Aber kein guter.
Die Bühne (Sandra Linde) ist fast leer: Plastikfolie im Hintergrund, schräge Ebene voll staubiger Erde, drin vier Löcher, aus denen die Darsteller auftauchen und wieder verschwinden. Mal ein paar Bierkrüge, mal ein paar Blumentöpfe – das war’s. Großartige Reduktion!
Auf dieser Bühne erlebt der Zuschauer die wahrlich den Appetit verderbenden Ehepflichten zwischen Otto und Hilde, eine wunderschön sich anbahnende Beinahe-Liebesszene zwischen Fritz und Mitzi, die dann krachend scheitert, die letztlich nur auf Sex beruhende Verliebtheit zwischen Otto und Mitzi, die Hilde beinahe die Ehe kostet. Außerdem ist man im wahrsten Wortsinn hautnah dabei, wenn Hilde ihre Nebenbuhlerin fast umbringt – und sich ihren Mann mit vollem Körpereinsatz zurückholt.
Am Ende schenkt das Ehepaar Fritz ein Motorrad, damit der verschwinden kann– und das tut er auch. Minutenlang hofft man, dass er die Mitzi mitnimmt, denn ein schräges Roadtrip-Pärchen könnten die beiden schon sein. Er tut’s aber nicht. Zurück bleiben die drei vom Anfang. Unverändert in ihrem Friedhofsleben, in ihren drei Löchern. Das vierte bleibt leer.
Das Schauspieler-Quartett – großartiger Job! Allen voran Stefan Walz: Sein brachial-brutaler Otto, der von sich selbst überzeugt ist, er habe ein gutes Herz auf dem rechten Fleck, brüllt, schlägt, säuft, vögelt und arbeitet hart. Seine ruppige Sexualität, die rohen Gefühle – lauter hilflose Suche nach Wärme. Walz ist so gut, dass man Angst vor ihm bekommt.
Maresa Lühle, deren eigentlich schlanke Figur per „Fat Suit“ aufgepumpt ist, zeigt die ganze Klaviatur einer Ehefrau, die dieses Spiel mitspielt, ihren Mann aber fest in der Hand hat: Ebenso verletzlich wie eiskalt – ein beeindruckender Bogen.
Philippine Pachl sucht nach Liebe. Die ganze Zeit. Dass sie sie nicht (oder nur scheinbar) findet, macht sie zum tragischen Blondchen, zur zarten Verliererin. Sie kündigt ihren Job, schafft den Absprung aber doch nicht. Sie lässt’s halt mit sich machen – vom Chef und vom Leben.
Und Konstantin Rickert? Der spielt den Fritz ganz still, mit träumerisch abwe(i)sendem Blick. Er, der wegen der Sexualität „Unnormale“, kommt raus aus seinem Loch. Nicht aus eigener Kraft, aber immerhin. Ein emotionaler Ruhepol auf dieser wilden Bühne. Aber auch nur wegen seiner Medikamente. Freier Wille? Eher nicht ...
Das Stück ist alt, die D-Mark und die Aids-Hysterie kommen (noch) drin vor. Aber die Ehe- und Gefühlskonstellationen, die hier hüllenlos und mit Publikumsschreck-Attitüde gezeigt werden, sind ja zeitlos, quasi unausrottbar. Der bayerische Ort könnte auch anderswo (auf der Welt) sein. In dem Dialekt aber, den Kroetz einsetzt, funktioniert’s wohl am besten. Regisseur Peter Wallgram hat das Ganze stark und gnadenlos inszeniert. Nicht jeder Engelsgartenbesucher übrigens wollte sich das bis zum Ende ansehen ...
Wieder zu Hause eine WhatsApp an einen Freund: „Mei, des g‘fallt ned a jedem. Schräges Stück. Tolle Schauspieler. Da nimmt der Spießer rasch Reißaus.“
So kurz kann man‘s auch sagen.