Tanztheater Wuppertal Mit Stöckelschuhen im Trümmerfeld
Wuppertal · „Palermo, Palermo“ von Pina Bausch ist in einer Neueinstudierung im Opernhaus zu erleben
Eine gewaltige Mauer zieht sich quer über die Bühne, kippt plötzlich ganz langsam nach hinten und zerbirst mit lautem Krachen in viele Einzelblöcke – als „Palermo Palermo“ im Dezember 1989 zur Uraufführung kam, da konnte man gar nicht anders, als darin ein Bild für den gerade erlebten Fall der deutsch-deutschen Grenze sehen.
Dabei ist Pina Bausch natürlich auch hier nicht im Ansatz eine (tages-)politische Choreographin gewesen. Es sind unverändert die ganz elementaren Ängste, die die Tänzerinnen und Tänzer antreiben. Julie Shanahan stürzt auf die Bühne, schreit wie in Panik Scott Jennings, später Fernando Suels Mendoza herbei: „Take my hands“.
Die Mischung aus tiefster Verzweiflung, dem Suchen nach Zärtlichkeit und Geborgenheit, fast gleichzeitig aber Ablehnung bis hin zur Aggression, das komprimiert in einer kurzen Szene summarisch die zentralen Momente der Bausch-Stücke aus den 1980er Jahren. Und wie Julie Shanahan (die schon bei der Uraufführung auf der Bühne stand) das mit wenigen Gesten und Worten ausdrücken kann, das ist nach wie vor nicht weniger als ein Theaterwunder.
Palermo Palermo beginnt mit einem Knalleffekt und bewegt sich sofort auf erhöhter Betriebstemperatur – kein behutsames Herantasten (wie etwa in den ein Jahrzehnt zuvor entstandenen „Arien“, die ein paar Tage vor dieser Wiederaufnahme ebenfalls im Opernhaus zu bestaunen waren). Noch bevor man sich vom Schock des Mauerfalls erholen kann, ist man mittendrin in diesem sofort hochemotionalisierten Trümmerfeld, das man als Seelenlandschaft verstehen kann wie als vielschichtigen Verweis auf den Titel dieses Tanzabends.
Entstanden ist dieser in einer Phase, in der Pina Bausch und ihr Ensemble die neuen Stücke an fernen Orten entwickelten, in diesem Fall am Teatro Biondo-Stabile in Palermo. Die mit Steinbrocken übersäte Bühne lässt antike Ruinenfragmente ebenso assoziieren wie triste sizilianische Gegenwart. Die Eindrücke vor Ort scheinen jedenfalls nicht allzu idyllisch gewesen zu sein: In einer großen Ensembleszene werfen die Tänzerinnen und Tänzer feierlich mit Müll um sich.
Es ist ein intensives, widersprüchliches, in vielen Momenten hartes Stück geworden ohne die verzweifelte Zärtlichkeit früherer Bausch-Choreographien. Kaum noch wird beruhigender Jazz oder klassische Musik eingespielt, keine nostalgischen Schlager, stattdessen monotones Glockengeläut und das Zirpen von Grillen, fremdartig anmutende Volksmusik aus Sizilien, aber auch aus Afrika und Japan.
Vor der Pause gibt es eine lange, fast aggressive Szene, in der sich ein Paar, nach wenigen Sekunden abgelöst durch das nächste, in hektischen, abgerissenen Tanzbewegungen gegenübersteht – fulminant getanzt auf höchstem Energielevel. Und nicht nur wenn Julie Shanahan, einen Strumpf über den Kopf gezogen, sich mit Pistole auf die Steinbrocken setzt, bleibt der staunende Blick auf dieses recht ferne Italien ziemlich distanziert.
Es gibt die Spielszenen, sogar ein regelrechtes Stück im Stück, am linken Bühnenrand, wo sich ein Tänzer eine Art kleiner Wohnung eingerichtet hat mit Fernseher und Bügeleisen (auf dem Fleisch und Spiegelei gebraten werden) – einst eine eigene Welt für den Daueraußenseiter Jan Minarik, jetzt hat sich Andrey Berezin die Rolle mit Charisma und abgründigem Witz sehr gut angeeignet. Wie er als Gipfel der Absurdität mit einer Pistole auf Tomaten schießt, dass diese spritzend zerplatzen, das gehört zu den unverwechselbaren Momenten im Bausch-Kosmos. Die Spanierin Nazareth Panadero, seit 1979 Emsemblemitglied und überhaupt nicht wegzudenken, bekräftigt mit ihrer unvergleichlichen Komik den Besitzanspruch auf ein Bündel Nudeln: „Das sind meine Spaghetti. Die gehören zu mir. Panadero. Alles meine.“
Ein Wiedersehen gibt es mit dem großen Dominique Mercy, Protagonist vieler Bausch-Tanzabende, wobei seine Rolle hier nicht allzu viel hergibt. Auch die elegante Julie-Ann Stanzak ist aus der originalen Besetzung noch dabei. Die Übertragung an ein verjüngtes Ensemble aber funktioniert gut; Ophelia Young, Tsai-Wie Tien, Oleg Stepanov oder Stephanie Troyak, um einige zu nennen, setzen ganz starke Akzente.
In früheren Werken schlug Pina Bausch meist einen formal strengen Bogen, wiederholte am Schluss noch einmal wesentliche Szenen und gab den Stücken damit eine geschlossene Form. „Palermo Palermo“ markiert einen Gegenpol: Immer stärker driften die einzelnen Elemente auseinander. In einer absonderlichen Szene im zweiten Teil (in dem ein dramatischer Wolkenhimmel die Szene beherrscht) werden sechs alte Klaviere auf die Bühne geschoben, und sechs Pianisten (darunter Matthias Burkert, schon seit 1980 musikalischer Berater des Tanztheaters) spielen die pathosgesättigte Einleitung zu Tschaikowskys b-Moll-Klavierkonzert. Blühende Kirschbäume werden vom Bühnenhimmel herabgelassen, als wolle da etwas völlig Neues beginnen (politisch Denkende mögen sich an die seinerseits versprochenen „blühenden Landschaften“ erinnert fühlen) – aber da ist das Stück plötzlich vorbei.
Es endet abrupt, ein unerwarteter Einschnitt. Man wird aus „Palermo Palermo“ regelrecht herausgeschleudert, im Uraufführungsjahr konnte man denken: In eine neue Zeit. Das Brüchige, Offene, Disparate an diesem Tanzabend fasziniert unverändert auch heute.