Tanztheater Wuppertal Ist alles gut – am Ende der Welt?
Viermal hintereinander gab es jetzt die Rainer-Behr-Choreographie „Schlafende Frau“ im Opernhaus (endlich) live zu sehen. Faszinierende beinahe drei Wuppertaler Tanztheaterstunden.
Nein, eine stringente Story erzählt dieser Abend nicht. Was sich ereignet, besser gesagt ergießt, ist ein kaskadenhaftes Kaleidoskop. Riesig öffnet sich die Opernhaus-Bühne – nach hinten und nach oben, ergänzt durch übergroße Vorhänge für filmische Projektionen. Und doch ist sie auch ganz klein, die Bühne. Vor allem vorn.
Rainer Behr, Choreograph und selbst Mitglied des Pina-Bausch- Ensembles, hat zusammen mit Tänzerinnen und Tänzern einen Bilderbogen erschaffen, der tief eintaucht: In Seelen, in Auswirkungen der (pandemischen) Gegenwart – und in das Zeitlose von Furcht und Schmerzen, wenn es um die Zerbrechlichkeit von Gefühlen oder die Angst vor dem Ende der Welt geht. Aufsehenerregend die Gestaltung von Bühne und Licht sowie unbedingt die Musikauswahl (Andreas Eisenschneider), die die komplette Klaviatur von Hardcore bis Handschuhweich abdeckt.
Wo spielt das alles? Wer weiß ... Unter der Erde? Auf einem fremden Planeten, den die vereinsamte Menschheit vergeblich besiedelt hat? Ein beweglicher, aus vielen Einzellichtern bestehender Riesenscheinwerfer lässt an die kalte Robotik mancher Science-Fiction-Filme denken.
Ans Schlafen allerdings ist – trotz des Titels – nicht zu denken: Auge und Ohr des Publikums sind stets gefangen und vielbeschäftigt. Die für Pina Bausch so typischen diagonal die Bühne ausmessenden Bewegungsbilder gibt es ebenso wie die „Arbeit“ mit Stühlen, an Wänden, mit Händen, Armen und mit dem langen Haar der Frauen. Hier vor allem fesselnd und formvollendet Tsai-Chin Yu mit meterlangen Kunst-Zöpfen.
Raum für wunderbare Soli gibt „Schlafende Frau“ immer wieder: Beispielsweise gleich zweimal für Julie Anne Stanzak, die vor der Pause endlose Minuten nur auf den Vorderfüßen tanzt sowie nach der Pause unter die Haut gehende Zärtlichkeit verströmt. Außerdem Emma Barrowman voll körperlicher (und sprachlicher) Präsenz.
Oder die Gäste Jonathan Frederickson, Stephanie Troyak und Nazareth Panadero – wie schön, sie wiederzusehen! Allein Nazareth Panadero, die die Bandbreite von bitterer Ernsthaftigkeit und Komik so unverwechselbar beherrscht: Da sitzt sie da draußen am Ende der Welt und gibt unbeirrbar zu Protokoll, es sei alles gut. Wie gern möchte man ihr glauben ...
Von der Liebe gibt es wenig zu sehen in „Schlafende Frau“. Nur ganz selten blitzt es auf, dass Männer und Frauen einander tatsächlich begegnen, berühren können. Und wenn sie dann paarweise eng tanzen, sind sie doch „eingesperrt“ in jeweils drei Eisenstangen, die sie selbst in den Händen halten. Welch ein Bild ...
Tanz-Theater ist „Schlafende Frau“ definitiv: Texte, auch sehr lange, schauspielerische Interaktion, plus manch schräg-witzigen Lacher – das alles gibt‘ hier zu erleben. Gegen Ende kehrt dieses erstaunliche Stück fast unmerklich an seinen Anfang zurück, verknüpft manche Fäden wieder miteinander, lässt andere frei schweben – und ein Abend voller sehr lauter und sehr leiser Töne schließt seinen Kreis.
Ein bemerkenswerter Choreograph, dieser Rainer Behr. Er hat Pina Bausch im Blut und eine Fülle ganz eigener, verstörender Bilder im Kopf. „Schlafende Frau“ führt all das zusammen – zeitlos und zeitgemäß zugleich. Möge das Stück bald wieder – und dann bitte öfter – erneut in Wuppertal zu sehen sein.