In den Riedel-Hallen „Moby Dick“: Auf der (vergeblichen) Sinnsuche
Wuppertal · Alles andere als ein Abenteuerstück: Die Wuppertaler Bühnen und Riedel Communication spielen „Moby Dick“ in den Riedel-Hallen.
Ziemlich ramponiert sieht er aus, der Dreimaster, den kein geringerer als Tony Cragg in die Riedel-Halle an der Uellendahler Straße gebaut hat. Dabei hat der Kampf gegen Moby Dick, den weißen Wal, noch nicht einmal richtig begonnen. Aber mit der menschlichen Existenz, als deren Sinnbild man das geborstene Schiff wohl sehen darf, ist es auf dem Meer des Lebens (oder des Seins an sich) eben nicht allzu gut bestellt.
„Man wird unter Wehen geboren, lebt unter Ängsten und stirbt unter Schmerzen“, heißt es im Verlauf des Abends. Kapitän Ahab, der bei einer früheren Begegnung mit dem Tier mehr zufällig ein Bein verloren hat, stemmt sich gegen die Sinnlosigkeit seines Schicksals, ja: aller menschlichen Schicksale, und will um jeden Preis (auch um den Preis der Menschlichkeit) das Tier besiegen. Walfang wird hier sozusagen zur menschheitsumfassenden Trauma-Therapie.
Regisseur Robert Sturm hat aus dem 1851 erschienenen Roman von Herman Melville (den man unbedingt mal lesen sollte, das ist eine Erkenntnis des Abends) die philosophischen Betrachtungen herausdestilliert. Es gibt keine festen Rollenzuweisungen. Die Schauspieler Pierre Siegenthaler, Jörg Reimers und Bernd Kuschmann – die beiden letztgenannten Urgesteine des Wuppertaler Schauspiels – teilen sich den Text ganz großartig auf.
Mit Jean Laurent Sasportes, Ed Kortlandt, Jan Minarek und Mark Sieczarek stehen auch noch vier ehemalige Tänzer von Pina Bausch auf der Bühne. Das ist schon jede Menge Wuppertaler Theatergeschichte, und das gibt der Produktion noch einmal einen besonderen Subtext: Das Ringen um Sinn und Bedeutung ist eben eine Angelegenheit, die einen ein ganzes (Theater-)Leben beschäftigt.
Die junge Luise Kinner, einzige Frau im Stück und meistens für den Schiffsjungen Pip zuständig, steuert jede Menge Wahnsinn bei – bis eben dieser Schiffsjunge, gerade noch einmal vor dem Ertrinken gerettet, durch die Erfahrung des Beinahe-Todes jede Fröhlichkeit verliert. Es schadet sicher nicht, wenn man die Handlung des Romans kennt. Eine Generation, die regelmäßig am Sonntagnachmittag von Gregory Peck als Captain Ahab in John Hustons Verfilmung von 1956 in die Abgründe des Walfangs eingeführt wurde, kann sich da notdürftig durch die ziemlich komplizierte Geschichte navigieren, aber was ist mit den von Netflix verwöhnten Jüngeren? Moby Dick ist früher ja auch mal als Abenteuerroman für Jugendliche gehandelt worden.
Die Wuppertaler Bühnen mogeln sich auf ihrer Internetpräsenz vollständig herum um die Frage, für wen die Produktion gedacht sei. „Das Stück dauert ungefähr eineinhalb Stunden und ist ab zwölf Jahren“, war auf Nachfrage zu erfahren – die Premiere dauerte dann deutlich über zwei Stunden, und die avisierten Zwölfjährigen müssen wohl frühbegabte Teilnehmer eines Philosophie-Leistungskurses sein.
Nein, ein Kinder- oder Jugendstück ist das nicht geworden, dazu fehlt es an äußerer Handlung, dazu ist Melvilles Sprache (in der Übersetzung von Matthias Jendis) viel zu kompliziert, dazu ist es zu lang. Ein paar Kürzungen gegen Ende kämen freilich auch dem gereiften akademischen Publikum entgegen.
Mit der wohlklingenden, manchmal plakativen und mitunter auch an den Grenzen des Kitsches rüttelnden, gleichwohl faszinierend die Stimmung umreißenden Musik von Alexander Balanescu (der mit einem sehr eindrucksvollen Violinsolo auf der Bühne zu sehen und hören ist) entwickelt das Stück einen Sog und eine ganz eigene Faszination.
Werner Dickel leitet das ganz ausgezeichnet aufspielende „Ensemble Schönberg“ der Musikhochschule, bei dem die Sängerinnen Anna Christin Sayn und Hasmik Muradyan sowie Sänger George Clark wie Instrumente in den Klang eingebunden sind: Sie singen auch keinen Text, sondern Gesangslinien auf einem einzigen Laut.
So fragt „Moby Dick“ jenseits aller Abenteuergeschichten nach den Grundlagen unserer Existenz. Eine frohe Botschaft hält der in dieser Hinsicht schonungslose Abend nicht bereit.
Trotzdem – oder gerade deshalb – sehenswert.