„La Bohème“ im Opernhaus Das ist einfach ziemlich genial
Wuppertal · Mit großartigen jungen Sängern und einer ambitionierten Regie jenseits aller Klischees setzt Puccinis „La Bohème“ im Opernhaus Maßstäbe.
Ein Stück Pappe kann Gebrauchsmaterial sein, im schlechtesten Fall nichts als Müll. Oder Ausgangspunkt für die tollsten und kreativsten Kunstwerke, die quasi aus dem Nichts neue Welten erschaffen – und allzu leicht mit der Realität kollidieren können. Das in etwa ist das Thema der ziemlich genialen Neuinszenierung von „La Bohéme“, in der Regisseur Immo Karaman sich vorsichtig von den üblichen Sehgewohnheiten absetzt und doch ganz nah am Kern der Oper bleibt.„Ich lebe in goldenen Träumen und baue mir Luftschlösser“ – so stellt der Dichter Rodolfo sich in einer der schönsten Tenorarien der Operngeschichte seiner schwerkranken Nachbarin Mimi vor.
Für die Regie ist diese Selbstbeschreibung eine Schlüsselstelle der Oper. Nicht die finanzielle Not der vier Künstlerfreunde Rodolfo, Marcello, Schaunard und Colline interessiert hier, sondern die Diskrepanz zwischen solchen Luftschlössern und der Realität. Fast alles ist aus Pappe im genialen (von Karaman selbst entworfenen) Bühnenbild. Der Ofen wird schnell mit Karton und Röhre angedeutet, die nur in der Imagination wärmende Flamme kurzerhand gemalt. Die Regie sprudelt nur so von oft witzigen Bildeinfällen, und selbst die Nebenfiguren scheinen in der ersten Hälfte des Abends aus nichts als Pappe zu bestehen (Kostüme: Fabian Posca) – der Vermieter Benoit, der die Miete eintreiben will, ist nur ein Gedankenspiel, Stegreiftheater. Die bunte Volksmenge um das Café Momus herum – allesamt Pappkameraden. Reale Menschen sind nur die vier jungen Männer, die kranke Mimi und später Musetta, die Immer-mal-wieder-Geliebte Marcellos, die als einzige begreift, was gerade geschieht: Während die Herren wie große Kinder gegen ein comicartiges Godzilla-Monster kämpfen, stirbt Mimi, und das ganz real und unromantisch.Die Traumwelt wird am Ende des zweiten Bildes gesprengt. Ist die Pappe bis dahin Mittel der schier unbegrenzten Möglichkeiten, so wird sie vom dritten Bild an zerrissen und in Container geworfen. Im vierten Bild sitzen etliche Statisten vor Kartons und holen offenbar Fotos heraus – geblieben ist nichts als Erinnerung.
In vielen Momenten, auch im Finale, verweigert die Regie den von Puccini gedachten Realismus: Es gibt nicht einmal in Andeutungen den Muff, den Mimi sich wünscht, und sie stirbt sehr einsam. Selbstmitleid statt Mitleiden – die Bohèmiens kommen bis zuletzt nicht aus ihrer Welt heraus. Mit Li Keng als Mimi und Sangmin Jeon als Rodolfo sind die Hauptpartien für diese Sichtweise ideal besetzt, beide noch sehr jung und auch stimmlich mit jugendlichem Timbre, aber keineswegs zu leicht. Sangmin Jeon mit tenoralem Glanz und Li Keng großartig in der Balance zwischen anrührender Zerbrechlichkeit und großen Aufschwüngen. Dazu kommt mit dem slowakischen Bariton Aleš Jenis ein großformatiger Marcello – und Simon Stricker als Schaunard und Sebastian Campione als Colline sowie Ralitsa Ralinova als stimmlich eher leichte und bewegliche, verführerisch schön singende Musetta runden ein exzellentes Ensemble ab, zuverlässig ergänzt um Chor, Extrachor und Kinderchor (Chorleitung: Markus Baisch).
Großartig ist aber auch, was das ausgezeichnete Sinfonieorchester unter der Leitung von Julia Jones aus dem Graben hören lässt. Jones zeichnet viele Details filigran nach. Da kann man an mancher Stelle, die sonst im Gefühlsüberschwang überspielt wird, plötzlich den Klang der Großstadt Paris heraushören – Puccini war 1896 moderner als gemeinhin wahrgenommen.Viele Übergänge sind sehr fein gezeichnet. Wenn etwa am Ende des zweiten Bildes der Walzer in den Marsch übergeht, dann ist das hier, anders als in den allermeisten Aufführungen, mehr als ein pittoresker Stimmungswechsel – ein akustisches Signal für das Ende der Behaglichkeit. Aber auch die großen Gefühlsausbrüche zeichnet Julia Jones plastisch nach. Kurzum: Eine szenisch wie musikalisch tolle Produktion, die man gehört und gesehen haben muss.