Erlösung lässt auf sich warten
Der österreichische Regisseur Philipp Harnoncourt inszeniert in Wuppertal Johann Sebastian Bachs "Johannespassion" als Leidensgeschichte von Flüchtlingen.
Jesus tritt als Bühnenfigur überhaupt nicht auf, die ihm zugewiesenen Passagen der Musik werden von verschiedenen Akteuren übernommen. Wer dieser Jesus ist, bleibt offen und ist für jeden anders zu beantworten. Der christliche Erlösungsaspekt scheint denkbar fern.
Das ist natürlich ein anderer Ansatz als der von Bach, aber genau das rechtfertigt es, das Stück auf die Bühne zu stellen: Das Theater hinterfragt die musikalisch-christliche Botschaft im aktuellen (das heißt hier auch: multikulturellen) Kontext. Harnoncourt bebildert nicht die Musik, sondern setzt ihr eine lockere Szenenfolge ohne klare Handlung entgegen. Er zeigt Menschen, deren Leben von Religion geprägt ist, aber auch die Demütigung von Flüchtlingen als vermeintliche "Scheinasylanten". Insgesamt gelingt das doch sehr eindrucksvoll und gleitet nur selten ins Plakative ab. Ein ziemlich theoretisch anmutender Fremdkörper bleibt allerdings der eingeschobene Kurzvortrag eines (in jeder Aufführung wechselnden) Referenten, der die bei Bach an dieser Stelle vorgesehene Predigt ersetzt — am Premierenabend sprach Roland Stolte über das "House of One", ein von Juden, Christen und Muslimen gemeinsam errichtetes Bet- und Lehrhaus in Berlin. In diesem Kontext wird Bachs Komposition aus der "schöne-Musik-Ecke" herausgeholt und klingt überraschend neu.
Dirigent Jörg Halubek interpretiert das Werk mit viel Sinn für Bühnendramatik aus dem Blickwinkel der Barockoper, mit kammermusikalisch klarem, sehr beweglichem Klang und vibrierender Nervosität, und das eigentlich eher im romantischen Genre beheimatete Wuppertaler Sinfonieorchester setzt das überraschend gut um. Großartig singt der von Jens Bingert perfekt einstudierte Opernchor, mit nur 25 Sängerinnen und Sängern klein besetzt, ungeheuer präzise und aufmerksam und mit ganz hervorragend ausgewogener Balance zwischen den einzelnen Stimmen. Dazu gesellt sich ein ordentliches Solistenensemble (Laura Demjan, Sopran; Lucie Ceralová, Alt; Johannes Grau, Tenor; Falko Hönisch, Peter Paul und Jan Szurgot, Bass). In der schwierigen Partie des Evangelisten schlägt sich Emilio Pons trotz ein paar heikler Momente wacker.
Wenn der abschließende Choral mit der Schlusszeile "Dich will ich preisen ewiglich" nicht vom Chor, sondern wie beiläufig vom Solistenquartett gesungen wird, dann ist längst klar, welche historische, politische und auch theologische Brisanz gerade heute in dieser "Johannespassion" steckt. Ein nachdenklich stimmender Theaterabend. (öe).