Bergische Uni Wuppertal „Eigentlich eine Internationale Wintersportwoche“

Wuppertal · Der Sportwissenschaftler Torsten Kleine von der Bergischen Uni in Wuppertal über die ersten Olympischen Winterspiele 1924 in Chamonix (Frankreich).

Torsten Kleine ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sportwissenschaft (Arbeitsgruppe „Integrative Theorie und Praxis des Sports") an der Bergischen Universität Wuppertal.

Foto: Kleine

Herr Kleine, die ersten Olympischen Winterspiele fanden vom 24. Januar bis 5. Dezember 1924 in Chamonix, Frankreich, statt. Im Vergleich zu den heutigen Winterspielen hatten die Wettkämpfe damals noch den Zauber des Unperfekten, über den man heute auch schmunzeln kann. So hatte sich zum Beispiel die Eisbahn durch Tauwetter kurz vor der Eröffnung in einen See verwandelt und nur ein plötzlicher Temperatursturz rettete die Wettkämpfe. Was unterschied die Spiele noch von den heutigen, durchgetakteten Wettkämpfen?

Kleine: „Viele kennen ja das Motto ,Höher, schneller, weiter‘, das wir mit der olympischen Idee verbinden, und vielleicht ist das ein guter Einstieg, denn vieles hat sich enorm verändert – vieles ist schneller, höher und weiter geworden. Beim 50-Kilometer-Ski-Langlauf laufen die Männer heute doppelt so schnell wie damals in Chamonix. Im Eishockey hat Kanada mit einem Torverhältnis von 110:33 die Wettkämpfe dominiert. Heute ist die Leistungsdichte viel höher und auch Kanada gewinnt nicht immer.

Im sportlichen Bereich hat sich viel gewandelt und verändert. Beim Bobfahren durften damals im Vierer auch fünf Personen mitfahren, das ist schon lange nicht mehr erlaubt. Als sie damals den Bob zur Startbahn getragen haben, haben Sportler noch eine Zigarette geraucht, das sieht man auf alten Bildern. Damals gab es auch nur eine Telefonleitung von Chamonix in die Schweiz, die sich die Reporter teilen mussten. Das ist in der medialen Welt von heute gar nicht mehr vorstellbar.

Aber man sieht auf der anderen Seite auch, dass nicht alles anders war, denn auch damals galt schon der Auftrag an die Organisatoren, dass ihre Sportstätten mindestens 30 Jahre weiter zur Verfügung stehen sollten. Das war schon ein Aspekt von Nachhaltigkeit, über den wir heute wieder nachdenken. Und auch die Frage von Infrastruktur und Entwicklung wird heute diskutiert, auch in Deutschland bei den Überlegungen, sich 2036 oder 2040 erneut für eine Austragung zu bewerben. In Chamonix wurde damals ein Bahnhof für die Spiele gebaut und die Eisenbahngesellschaft war auch mit einem kleinen Logo auf dem Plakat verewigt. Das sind erste Merkmale von Sponsoring, und der Bau hatte auch positive Effekte für den Tourismus.

Auch die politische Dimension, die die Olympischen Spiele zeitlebens gehabt haben, zeigte sich damals. Deutschland durfte nicht mitmachen, weil die französische Besatzung, die bis ins Bergische Land reichte, ein Thema war und die Reparationszahlungen nicht geleistet wurden.“

Kurios ist, dass zum Beispiel der Eiskunstlauf durch das Olympische Komitee bereits im Sommer 1908 eingeführt wurde, obwohl es noch keine Winterspiele gab. Warum haderte das IOC mit sich und hisste zwar 1924 die Olympische Flagge, verbot aber das Entfachen des Olympischen Feuers?

Kleine: „Die Olympischen Spiele 1924 waren damals zunächst keine Olympischen Spiele. 1924 war der moderne Begründer der Olympischen Spiele, Pierre de Coubertain, noch IOC-Präsident. Der wollte eigentlich keine Olympischen Winterspiele und wehrte sich auch dagegen. Es gab andere Veranstaltungen in Skandinavien, die auch etwas dagegen hatten und so gab es eigentlich eine Internationale Wintersportwoche unter der Schirmherrschaft des IOC, aber nicht offiziell Olympische Spiele.

Dieser Titel ist erst ein Jahr später vom IOC auf einer Sitzung in Prag nachträglich verliehen worden. Aber es waren olympische Symbole vor Ort. Das olympische Feuer gab es damals noch nicht. Das wurde erst 1928 in Amsterdam erfunden. Der Fackellauf wurde sogar erst 1936 in Berlin eingeführt. Die Olympische Flagge allerdings wehte 1924 in Chamonix. Die hatte Coubertain selbst für die Spiele 1920 in Antwerpen erfunden.“

Zu den Disziplinen gehörten auch skurrile Sportarten, wie der Militärpatrouillenlauf. Was war das?

Kleine: „Man kennt aus der Sportgeschichte die Verbindung zum Militär, zu Krieg und Kampf. Das ist etwas, was den Sport begleitet, und damals gab es diese Disziplin, wo die Athleten – es waren vier Männer – mit Ski, Uniform, Gewehr und Rucksack als Gruppe angetreten sind. Es mussten ein Offizier und drei weitere Soldaten sein. Die sind dann mit Skiern gelaufen und haben nach der Hälfte der 30 Kilometer auf Ziele geschossen, die 250 Meter entfernt waren, viel weiter als das, was wir heute kennen. Dafür haben sie dann Bonussekunden bekommen. Sie haben ca. vier Stunden mit Sack und Pack gebraucht. 1960 ist dann Biathlon als Weiterentwicklung ins olympische Programm aufgenommen worden.“

Eine elfjährige Norwegerin machte damals von sich reden, die ein paar Jahre später so richtig rauskam. Wer war das?

Kleine: „Wenn man der Presse glauben darf, hat Frau ,Hoppla‘ zunächst Aufmerksamkeit erregt, weil sie sehr jung war, nämlich elf Jahre. Sie ist bei ihrem Auftritt im Eiskunstlauf auf den Popo gefallen und soll „Hoppla“ gerufen haben und wurde unter acht Teilnehmerinnen Letzte. Sonja Henie aus Norwegen hat danach Aufmerksamkeit erreicht, weil sie die nächsten drei Olympischen Spiele gewonnen hat. 1936 ist sie dann nach Hollywood gegangen, um Filmkarriere zu machen. Dort gehörte sie zu den bestbezahltesten Schauspielerinnen überhaupt.

Das haben auch andere Sportler gemacht, wie Johnny Weissmüller, Olympiasieger 1932 im Schwimmen, der als Film-Tarzan bekannt wurde. Sie hingegen, hat mit Shows, die auch mit Eiskunstlauf zu tun hatten, Karriere im Film gemacht, gilt aber bis heute als eine der erfolgreichsten Eiskunstläuferinnen der Welt.“

Ein Athlet musste 50 Jahre warten, um seine Bronzemedaille zu erhalten. Was war passiert?

Kleine: „Es hat sich an den Regeln und am Datenmanagement unglaublich viel geändert. In dem Beispiel der Frage geht es um das Skispringen. Da hatte sich die Jury schlicht und ergreifend verrechnet. Der eigentlich Drittplatzierte Anders Haugen hat nach fünfzig Jahren persönlich durch die Tochter des Dritten die Bronze-Medaille überreicht bekommen.

Eine andere Geschichte, die sich auch 1924 zugetragen hat, ist die des Curlings. Auch da gab es Sieger, die allerdings keine Medaille bekamen, weil es vermeintlich ein Demonstrationswettbewerb gewesen sei. Das ist dann erst 82 Jahre später aufgefallen. 2006 wurde die Goldmedaille den britischen Gewinnern tatsächlich bei den Olympischen Spielen in Turin posthum verliehen, weil man nachweisen konnte, dass es damals ein regulärer Wettbewerb gewesen ist.“

245 Männer und 13 Frauen kämpften damals in insgesamt 16 Disziplinen um ihre Medaillen. Wie umfangreich ist das Sportangebot heute?

Kleine: „Es waren damals 14 Disziplinen in neun Sportarten und heute ist es gar nicht so viel mehr, was die Sportarten angeht. Für 2026 sind 16 Sportarten vorgesehen, aber es sind 116 Disziplinen. Da sieht man, wie sich das im Laufe der Jahre in der Menge entwickelt hat. An der Zahl der Teilnehmenden sieht man auch, dass sich das Geschlechterverhältnis verändert. Zuletzt in Peking 2022 waren es 1.600 Männer und 1-300 Frauen aus 92 Ländern.

Bei den Winterspielen 1924 waren nur 16 Länder beteiligt und bei den Sommerspielen im Sommer in Paris werden Athletinnen und Athleten aus fast allen der mehr als 200 Länder der Erde erwartet. Daran sieht man auch die weltweite Bedeutung der Spiele. In Turin rechnet man 2026 mit über 3.000 Athletinnen und Athleten.“

Vieles hat sich verändert und auch neue Disziplinen kommen immer wieder dazu. So wird 2026 in Mailand und Cortina d’Ampezzo das Skimountaineering olympisch werden. Was ist das und wo kommt das her?

Kleine: „Skimountaineering bezeichnet man im deutschen Sprachgebrauch als Skibergsteigen oder Skitourengehen. Oft spricht man international einfach von Skimo. Da hat es auch eine Entwicklung gegeben, die man in vielen Sportarten findet. Eine Bewegungsidee entwickelt, entdeckt, erfindet man und betreibt sie zunähst freizeitmäßig. Und dann gibt es Menschen, die wollen daraus einen Wettkampf machen. Dann werden Regeln aufgestellt, man überlegt sich, wie kann man das machen.

Vor allem die Italiener haben sich dafür eingesetzt, dass es olympisch wird, da es dort sehr populär ist. Es geht darum, dass man durchs offene Gelände Ski fährt und läuft, es gibt Steigungen und es müssen auf freiem Gelände bestimmte Strecken gelaufen und andere gefahren werden. Inzwischen ist sogar geregelt, wieviel und welche Kleidung man tragen darf.“

Olympia steht für große Spiele, große Unterhaltung, große Emotionen, und das gilt auch für den Sportstättenbau. Im Zuge der Nachhaltigkeitsdebatte muss man aber auch fragen, wie Olympische Spiele in Zeiten von Umweltschutz, Klimakrise, Nachhaltigkeit und immenser Kosten möglich sind, um nicht bloß eine kostenintensive Extravaganz zu sein. Sind also zweiwöchige Olympische Spiele Ihrer Meinung nach ein Erbe oder eher eine Hinterlassenschaft?

Kleine: „Das ist für mich die mit Abstand schwierigste Frage. Ich versuche es mal mit drei Antwortversuchen. Erstens zum Sportstättenbau: Wenn man sich die Spiele von 2018 in Pyeongchang, Südkorea, anschaut, muss man feststellen, dass das Olympiastadion, das nur für die Eröffnungs- und Schlussfeier errichtet worden ist, nicht mehr existiert. Es wurde also nur für zwei Ereignisse einer Veranstaltung ein Stadion für 35.000 Menschen gebaut, dass knapp 100 Millionen Euro gekostet hat und heute nicht mehr da ist.

2026 findet die Schlussfeier in der Arena von Verona statt, 30 n.Chr. gebaut, die gibt es immer noch und wird für viele Veranstaltungen genutzt. Die Eröffnungsfeier findet im Stadion von Mailand statt, welches 1926 errichtet wurde. Daran kann man sehr schön sehen, dass es auch nachhaltigere Wege gibt. Die Olympischen Spiele haben weltweit eine Stahlkraft und Italien zeigt, dass man diese Veranstaltungen auch im 21. Jahrhundert nachhaltig gestalten kann, um zumindest Vorbehalte zu reduzieren.

Die zweite Antwort bezieht sich auf die Olympische Idee. Coubertain hat ja versucht, die modernen Spiele wieder ins Leben zu rufen, um Völker wieder zusammenzubringen und Frieden zu stiften. Historisch hat der Olympische Friede in der Antike immer auch eine Wirkung gehabt. In der Moderne entstanden Verbindungen und Beziehungen unter Sportlerinnen und Sportlern verschiedener Nationen, sogar echte Freundschaften wie die von Jesse Owens und Lutz Long 1936 als prominentes Beispiel. Anders herum wurde diese Idee auch verändert, kommerzialisiert und politisch genutzt. Wenn man sich die Diskussion um den Ausschluss von Nationen ansieht, die in kriegerische Handlungen verstrickt sind, dann ist der Umgang mit der Olympischen Idee mitten in der Gesellschaft.

Oft wurden auch sportliche Erfolge politisch genutzt und man kann sich fragen, ob dafür öffentliche Gelder benutzt werden dürfen. Das IOC verdient mit dieser Veranstaltung unzweifelhaft sehr hohe Summen und ist genau wie vor hundert Jahren immer noch eine sehr elitäre Clique, die da das Sagen hat und nicht unbedingt demokratisch entscheidet. Andererseits unterstützt das IOC auch sportliche Projekte weltweit, die sonst nicht möglich wären. Daher ist es sehr ambivalent zu betrachten.

Und die dritte Antwort ist sehr persönlich. Ich habe lange darüber nachgedacht, einmal selber als Zuschauer zu den Olympischen Spielen zu fahren und mich entschieden, es für Paris in diesem Jahr zu versuchen. Karten dafür habe ich tatsächlich auch bekommen. Wenn ich mir überlege, wieviel Energie dort für die Stadien, die Wettkämpfe, die Anreisen von Athletinnen und Athleten, Funktionären und Zuschauerinnen und Zuschauern usw. gebraucht wird, dann ist es ganz klar eine zweischneidige Sache.

Aber eine endgültige, persönliche Antwort kann ich vielleicht dann geben, wenn ich wieder zurück bin. Ich denke, dass meine Erfahrungen dort dann auch in meinen Seminaren den Studierenden zu Gute kommen können.“