Kultur-Lockdown Opernintendant Berthold Schneider: „Wir werden nicht schweigen“

Wuppertal · Um den schweren Schlag, den der sogenannte „Lockdown light“ der Kultur zufügt, zu kommentieren, hat sich jetzt Wuppertals Opernintendant Berthold Schneider engagiert und nachdenklich zu Wort gemeldet. Seine Stellungnahme, die von Dienstag (3. November 2020) datiert, veröffentlichen wir hier im Wortlaut.

Berthold Schneider ist Intendant der Wuppertaler Oper. Er stellt viele Fragen angesichts der Folgen, die der aktuelle Lockdown für die Kultur – und deswegen für die Menschen – hat.

Foto: Jens Grossmann

„Seit Montag, 2. November, ist es im Theater still geworden. Es wird nichts mehr für unser Publikum aufgeführt. Wir Theatermacherinnen und -macher verstehen selbstverständlich die Dramatik der Situation. Wir wollen helfen und unseren Teil dazu beitragen, damit dieser gefährliche Virus verschwindet. Deshalb tragen wir die jetzt von der Regierung beschlossenen Maßnahmen mit.

Gleichzeitig wissen wir alle, dass die Pandemie nicht so schnell vorüber sein wird. Wir wissen, dass wir uns in den kommenden Monaten nicht von einem Lockdown zum anderen hangeln können. Der Preis, den die Gesellschaft und jeder Einzelne zu zahlen hätte, wäre zu hoch. Wir müssen also Wege suchen und finden, mit diesem aggressiven Virus einen sinnvollen, menschenwürdigen Alltag zu gestalten. Wir sind überzeugt, dass das gelingen kann, wenn wir die nächsten Wochen nutzen, differenziert auf alle Lebensbereiche zu schauen.

Wir müssen uns dabei Fragen stellen wie: Welchen Beitrag leistet diese oder jene Aktivität zum Infektionsgeschehen? Welche Grundbedürfnisse erfüllt sie? Wir müssen abwägen. Wenn wir dabei einzelne Bereiche als „systemrelevant“ klassifizieren, müssen wir uns fragen: Welches System meinen wir damit? Ist es ein System des menschlichen Miteinanders, eines der ökonomischen Optimierung? Wie wichtig ist es uns, dass Jugendlichen legale Formen des geselligen Miteinanders ermöglicht werden, weil sie sonst nicht erwachsen werden können? Wie könnten solche Formen aussehen? Wie können wir Nähe zu unseren älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger zulassen, damit sie nicht vereinsamen?

Unsere Antwort auf die nächste Welle darf nicht der nächste Lockdown sein. Wir glauben nicht, dass wir uns ausschließlich auf die Rettung durch die Medizin verlassen sollten, wenn wir aus dieser Krise herausfinden wollen. Wir glauben, dass wir Philosophinnen und Philosophen, Literatinnen und Literaten, den Künstlerinnen und Künstlern der unterschiedlichsten Genres zuhören sollten, weil sie oftmals die beste Sensorik dafür haben, was uns Menschen in unserem Menschsein gefährdet oder was uns bewahren kann.

Wir kommen in Theatern zusammen, um unterhalten zu werden, um Kunst zu genießen, aber eben auch, um uns Gedanken auszusetzen, von denen wir spüren, dass sie ins Zentrum unseres Seins vordringen. Wir gehen auch ins Theater, um an uns selbst zu arbeiten. Eine gute Vorstellung verlassen wir nicht als dieselbe Person, die vor zwei Stunden ins Theater hineingegangen ist. Diese Arbeit an uns selbst ist vielleicht ähnlich produktiv, wie das Herstellen von Gütern oder die Steigerung von Gewinnen.

In diesem Sinn werden wir zwar jetzt die Türen des Theaters für eine Weile schließen, aber wir werden in dieser Stille nicht schweigen. Ganz im Gegenteil.“