Pina-Bausch-Tanztheater Viel riskiert — und alles gewonnen

Wuppertal · Dafür kommen sogar Kulturpolitiker aus Berlin nach Wuppertal: 40 Jahre nach der Uraufführung führt das Tanztheater "Café Müller" und "Das Frühlingsopfer" mit "echtem" Orchester auf.

Liebe ist eine komplizierte Angelegenheit: Michael Strecker, Azusa Seyama und Scott Jennings in „Café Müller“.

Foto: Bettina Stöß

Das "Café Müller" wird 40! Pina Bauschs bahnbrechender Choreographie aus dem Jahr 1978 ist deshalb eine kleine, aber feine Fotoausstellung im Foyer des Schauspielhauses und hoffentlich baldigen Pina-Bausch-Tanzzentrum gewidmet, die (auch) an die damalige Entstehungsgeschichte erinnert. Die Ausstellung läuft noch bis Samstag, 11. November 2018.

Drei Gastchoreographen hatte die Chefin des Tanztheaters eingeladen, zu ein paar (wenigen) Eckpunkten ein Stück zu entwickeln: Vier Personen am Tisch — dazu ein rothaariges Mädchen, das weint. Ein Mann mit dunkler Brille, ein Kleid und vielleicht ein Mantel. Die vierte Choreographie steuerte sie selbst bei. Eben die hat die Zeit überdauert — und: Weil Pina Bausch dort selbst als Tänzerin auftrat, ist "Café Müller" mit ihr verbunden wie vielleicht kein anderes ihrer Stücke.

Wuppertals Bundestagsabgeordnete Helge Lindh und Jürgen Hardt brachten zur Eröffnung aus Berlin die kulturpolitischen Sprecher von CDU/CSU, SPD und Grünen mit an die Wupper, schließlich bräuchte ein Tanzzentrum dringend Geld vom Bund.

Und vom Elberfelder Schauspielhaus ging es postwendend weiter zum Barmer Opernhaus zur Premiere der Neueinstudierung von "Café Müller" und "Das Frühlingsopfer". Die Gäste mögen sich zwischendurch gefragt haben, wozu eigentlich ein Tanzzentrum errichten, wenn es doch in der Oper so sensationell gut klingt, denn: Erstmals wird die Musik zu beiden Choreographien live vom Orchester gespielt. Am Rande: Das gehört noch zur Planung von Adolphe Binder.

Statt der großen Janet Baker mit (zugegeben: faszinierendem) Pathos aus der Konserve singt die junge (höchst talentierte) Marie Heeschen die tieftraurigen Arien aus Henry Purcells "The Fairy Queen" und "Dido and Aeneas", völlig anders im Stil. Keine dramatisch sterbende Katharger-Königin, sondern mit glasklarem Sopran gleichsam der Welt entrückt.

Dirigent Henrik Schaefer riskiert mit dem in hier in Mini-Besetzung angetretenen Sinfonieorchester viel, nämlich ein extrem zurückgenommenes Pianissimo, und gewinnt alles. Herausragend, wenn man denn überhaupt jemanden hervorheben möchte, der famose Oboist Andreas Heimann. Wow, mögen da die Gäste gedacht haben, nicht nur in Berlin gibt's tolle Orchester.

Die Musik bekommt gegenüber dem Tanz größeres Gewicht, wenn sie live gespielt wird, so der Eindruck. Das verschiebt die Akzente, und die Choreographie emanzipiert sich ein Stück weit von ihrer sowieso unvergesslichen Schöpferin. Wobei Helena Pikon nahezu perfekt deren Part übernimmt: Das liefert Sehnsuchtsmomente.

Auch ein Stück wie "Café Müller‘" entwickle sich immer weiter, hatte Choreographinnen-Sohn Salomon Bausch bei der Ausstellungseröffnung im Schauspielhaus festgestellt — mit Recht, wie sich an dieser Aufführung beobachten ließ.

Auch 40 Jahre nach der Uraufführung erzählt das immer wieder rätselhafte Werk, das in dieser Aufführungsserie in drei verschiedenen Besetzungen zu sehen ist, mehr (und intensiver) von unserer verzweifelt einsamen Suche nach Geborgenheit als die allermeisten anderen Kunstwerke. Ein Jahrhundertstück!

Nach der Pause dann "Das Frühlingsopfer" mit der immens schwierig zu spielenden Musik von Igor Strawinsky, und auch wenn der aufregend schroffen Interpretation in manchem Detail etwas mehr Probenzeit ganz gut getan hätte: Die Präsenz der Musik aus dem Orchestergraben gibt der ebenfalls längst in die Tanzgeschichte eingegangenen Choreographie, die das Frühlings-Menschenopfer aus dem heidnischen Russland in einen erotisch aufgeladenen Geschlechterkampf auf der mit Torf ausgelegten Bühne umdeutet, noch einmal zusätzliche Spannung.

Das verjüngte Ensemble tanzt hinreißend. Danach Ovationen, die hoffentlich bis ins ferne Berlin hallen.