Wagners „Tannhäuser“ in Wuppertal Blutiger Sängerkrieg in der Keupstraße
Nuran David Calis deutet Wagners Oper „Tannhäuser“ brisant um – und macht Patrick Hahns Debüt im Operngraben fast zur Nebensache.
Was hat der „Tannhäuser“ mit dem Bombenanschlag des NSU in der Kölner Keupstraße 2004 zu tun? Vielleicht doch mehr, als einem lieb sein kann. Es sind ziemlich gewagte Verbindungslinien, die Regisseur Nuran David Calis in seiner vielschichtigen Inszenierung zieht, und Widersprüche sind vorprogrammiert.
Calis versetzt die Geschichte in die jüngste, ziemlich dunkle deutsche Vergangenheit, eben die Zeit der NSU-Morde. Er schert sich erst einmal gar nicht um den genauen Text, sondern orientiert sich an den groben Handlungsabläufen. Die erzählt er ungefähr so: Tannhäuser vergnügt sich im Bordell, ist aber in Gedanken nicht recht bei der Sache und scheitert beim Koitus (erster Aufzug); in einem als „Kiez“ zu bezeichnenden Straßenzug feiern Menschen unterschiedlichster Herkunft ein Straßenfest und geraten mit Tannhäuser aneinander, der durch provokative Äußerungen die ungeschriebenen Regeln verletzt und schließlich weggejagt wird (Akt zwei).
Nach einem rechtsextrem motivierten Anschlag hat der „Kiez“ seine Lebendigkeit verloren, und alle sind depressiv (Akt drei). Das geht sogar einigermaßen plausibel auf, auch wenn es manche Brüche gibt (der Wolfram etwa – das ist der mit dem „Lied an den Abendstern“ – erscheint im zweiten Akt ganz anders als im dritten).
Weil Calis viele Details sehr genau inszeniert, nimmt die Inszenierung schnell Fahrt auf und hat, wenn man sich auf die Gedankenspiele einlässt, viele spannende Momente. Das wäre trotzdem nicht mehr als durchschnittlicher „Tannhäuser“-Standard, würde Calis nicht den zentralen zweiten Akt mit dem „Sängerkrieg“ (für die jüngeren Leser: Das ist ein veralteter Begriff für „Song-Contest“) in mehrfacher Hinsicht provokativ anlegen.
Er meint die Sache mit dem Multi-Kulti-Fest durchaus ernst, und da wird Landgraf und Wartburgherr Hermann zum altersweisen arabischen Patriarchen, vielleicht der Imam des Viertels, und Nichte Elisabeth zur modernen Geschäftsfrau mit Migrationshintergrund. Nichts da mit heiliger christlicher Elisabeth.
Ist diese Konstellation ein Affront gegen Wagner? Ja und nein. Ja, weil viele Textpassagen in diesem Kontext als lächerlich hohle Phrasen entlarvt werden, und natürlich, weil Wagners Gefasel vom edlen, deutschen Helden ein Nährboden für rechtsextreme Gewalt ist. Nein, weil Calis dem bei Wagner arg konstruierten Konflikt einen nachvollziehbaren Sinn gibt: Da will sich jemand partout nicht an Regeln halten, die diese Gesellschaft zum Zusammenhalt braucht, und deshalb kommt es zum Eklat.
Für einen kurzen Moment zeichnet Calis eine Idealgesellschaft, die über viele Grenzen hinweg nachbarschaftlich und freundschaftlich zusammenlebt. So etwas hatte Wagner mit seiner Wartburggesellschaft sicher auch im Sinn. Die eigentliche Brisanz der Inszenierung liegt darin, dass die hier (keineswegs nur positiv) gezeichnete Gesellschaft so denkbar weit weg scheint vom gut situierten, überalterten, fast durchweg „weißen“ Opernpublikum.
Und damit stellt Calis nebenbei die unangenehme Frage nach der Relevanz der traditionsbehafteten Gattung Oper. Ziemlich streitbar und ziemlich spannend also, was da auf der Bühne verhandelt wird beim ersten Wuppertaler Operndirigat des neuen Chefdirigenten Patrick Hahn.
Mit dem guten, aber während der mehr als vierstündigen Aufführung (zwei Pausen eingeschlossen) nicht immer auf konstant hohem Niveau aufspielenden Sinfonieorchester gelingt vieles sehr schön. Für die Stilwechsel im ersten Aufzug zwischen der flirrenden Venus-Musik und der eher bodenständigen Ritterwelt findet Hahn nicht immer plausible Lösungen, und manche Bläserphrase wirkt in der Artikulation nicht konsequent ausgestaltet.
Mit tollem Klang singen Chor, Kinderchor und Extrachor; hier und da gibt es ein paar Abstimmungsschwierigkeiten (und der Pilgerchor ist deutlich im Tempo verschleppt). Trotzdem: Für diese auch musikalisch sehr schwierige Oper eine sehr beachtliche Interpretation.
Tenor Norbert Ernst gibt einen sich verzehrenden, sehr intensiven Tannhäuser, bei dem nicht jeder Spitzenton wirklich sitzt, der aber die Figur in ihrer Zerrissenheit eindrucksvoll darstellt. Julie Adams ist eine trompetenhaft strahlende Elisabeth, die aber auch mit betörend schönem Pianissimo glänzt.
Allison Cook singt eine etwas unscharfe, jugendliche Venus, Guido Jentjes einen durch und durch soliden Landgrafen. Sensationell ist Nicolas Schröer, Knabensolist der Chorakademie Dortmund, als Hirt. Sangmin Jeon als Walther von der Vogelweide und Sebastian Campione als Rocksänger Biterolf liefern stimmlich präsent hübsche und durchaus komödiantische Kabinettstückchen ab, und Simon Stricker besticht als liedhaft klarer Wolfram. Großer Jubel nach der hier besprochenen zweiten Aufführung.