Normales Leben und „Sternvergehen“
Wuppertal · Geschichte wird sichtbar an Menschengeschichten. In zwei neuen Publikationen stellt die Begegnungsstätte Alte Synagoge dieses von ihr stets erfolgreich angewandte Konzept erneut unter Beweis.
Da ist einmal die DIN A4 große Materialmappe "Sternvergehen", die von der jüdischen Familie Cohnen aus Elberfeld handelt. Dank dem letzten noch lebenden Wuppertaler Zeitzeugen, dem 92-jährigen Herbert Cohnen, der der Alten Synagoge über 80 persönliche (Familien-)Dokumente übergab, wurde es möglich, eine sowohl sehr persönliche als auch sehr typische Menschengeschichte für (nicht nur) den Schulunterricht aufzubereiten.
Herbert Cohnens Vater Alex verließ am 25. Juni 1943 die Wohnung, um nach der Bombardierung der Innenstadt Verdunklungspapier für die zerstörten Fenster zu kaufen. Dabei zog er eine Jacke an, die nicht den vorgeschriebenen "Judenstern" trug. Ein Nachbar sah das und zeigte Cohnen an. Wegen dieses "Sternvergehens" kam er ins KZ Auschwitz, das er zwar überlebte, aber schon 1946 an den Folgen der dortigen Misshandlungen starb.
Aus 40 der 80 Cohnen-Dokumente hat die Alte Synagoge eine Mappe zusammengestellt, die in vielen Details und Schritt für Schritt Situation, Lebenswirklichkeit, Schicksal und Besonderheiten der Familie vor, während und nach der Nazi-Diktatur erlebbar und verständlich macht. Nie zu lange Info- und Arbeitstexte, viele Bilder sowie ein USB-Stick mit einem 66-minütigen eindringlichen Zeitzeugeninterview mit Herbert Cohnen bilden ein optimales Ensemble, das sehr flexibel eingesetzt werden kann. Je 30 Exemplare umfassende Klassensätze der Mappe gibt es für weiterführende Schulen kostenlos bei der Begegnungsstätte Alte Synagoge an der Genügsamkeitstraße.
Zum Zweiten hat sich Ulrike Schrader, Leiterin der Alten Synagoge, mit der jüdischen Familie Steilberger beschäftigt: "...der alte Gott lebt noch, wird uns auch nicht verlassen." widmet sich auf 135 Seiten im DIN A5-ähnlichen Quadratformat dem aus Langenberg nach Elberfeld eingewanderten jüdischen Weber Samuel Steilberger (1814 bis 1901). Der fromme zwölffache Familienvater hat viele Briefe und andere Dinge hinterlassen, aus denen die Alte Synagoge dieses Buch sowie ein eigenes Ausstellungsmodul machen konnte.
Das Besondere: In Sachen Steilberger geht es um ganz normale, "kleine" Leute, die sich im kompletten Konzert ihrer Alltagssorgen in nichts von christlichen Nachbarn unterscheiden. Das Steilberger-Buch dokumentiert keine Verfolgungs- und Opfergeschichte, sondern ein "Otto Normalverbraucher"-Leben, das sich nur in seinen religiösen Traditionen "anders" darstellt. Alles andere ist wie überall: Gottvertrauen, Geld,- Gesundheits- und Kindererziehungssorgen.
Samuel Steilbergers Briefe an seine Tochter Regina von 1895 bis 1901 bilden den Mittelteil, darüber hinaus gibt es detaillierte Informationen und Hintergründe, viele Fotos und Faksimiles, Illustrationen von Wolf Erlbruch sowie einen umfangreichen, kontinentweit verzweigten Stammbaum der Steilbergers, der mit seiner achten Generation bis in die Jetzt-Zeit reicht. Das Buch glänzt durch optische Eleganz plus inhaltlicher Akribie — und lässt so auch (fast) vergessen, dass die Info-Blöcke im Briefteil doch sehr klein gedruckt sind...
Dass Samuel Steilbergers alte Briefe überhaupt bis heute erhalten geblieben sind, ist allein schon selten. Das Buch von Ulrike Schrader rundet diesen Glücksfall ab: Es öffnet ein Sichtfenster in die Zeit.
Die Quellensammlung "Sternvergehen" (ISBN 978—3—940199—14—0) kostet zehn Euro, das Buch über die Familie Steilberger (ISBN 978—3—940199—10—2) ist für acht Euro zu haben.