Die Schmerzen der Erinnerung
Michael Zeller wird am Mittwoch (29. Oktober 2014) 70. Gerade hat der in Wuppertal lebende Schriftsteller mit "BruderTod" sein neuestes — und vielleicht schwerwiegendstes — Buch veröffentlicht.
Im Januar 1957 beging Zellers 17-jähriger Bruder Hellmut Selbstmord. Ohne ein Wort der Erklärung zu hinterlassen. Michael Zeller war damals zwölf. Bis heute hat der Verfasser mehrerer Romane, Erzählungs- und Gedichtbände gebraucht, bis er dieses (Familien-)Kapitel aufschlug und es sich von der Seele schrieb. Was da auf 141 Seiten geschieht, ist das schonungslose Abtragen von Zeit- und Gefühlsschichten mit dem Wörter-Skalpell. "BruderTod" ist ein Operationsbericht. Der schreibt, ist der, der operiert wird. Und der, der operiert.
Zeller macht das in der Ich-Form. Allwissender Erzähler ist er nicht. Im Gegenteil. Er ist vor allem einer, der die Antwort auf die große Frage nicht weiß: Warum wollte mein Bruder nicht mehr leben? Michael Zeller entfaltet das Panorama seiner Familie: Die Kindheit der drei Zeller-Brüder in Breslau, wo der Vater eine wichtige Funktion im NS-Regionalregierungsapparat mit Joseph Goebbels als Dienstherrn hatte, die Flucht der Mutter mit den Kindern vor der Roten Armee nach Miltenberg am Main, wo der wohlhabende (und der Mutter verhasste) Großvater lebt, das spurlose Verschwinden und Für-tot-Erklärtwerden des Vaters, der in Schlesien blieb. Es geht um den bitteren Verlust von Wohlstand, um das jahrelange Hoffen auf eine (väterliche) Wiederkehr, die nicht stattfindet, um das Fremdsein der Ost-Flüchtlinge in Miltenberg, um den Umzug in ein noch unfertiges Reihenhaus nach Bad Homburg — wo Hellmut Zeller sich mit Gas vergiftet.
Schritt für Schritt arbeitet Michael Zeller in "BruderTod" anhand weniger Fotos, Papiere, Briefe und anderer Erinnerungsstücke die Sedimente der Zeit ab. Zu diesem Abarbeiten gehört auch die Rückkehr nach Breslau, an das er selbst, da er damals noch viel zu jung war, ebenso wenig echte Erinnerungen hat, wie an die "echte" Person seines Vaters. Auch eine Fahrt in die Ukraine, wo sein Onkel bei Charkow gefallen ist, zählt zu der Reise ins Innere, die "BruderTod" darstellt. Da spiegelt sich deutsche und (ost-)europäische Kriegs- und Nachkriegsgeschichte: Ohne Schwerblütigkeit, ohne erhobenen Zeigefinger , ohne Asche-aufs-Haupt-Attitüde.
"BruderTod" berichtet außerdem von zwei weiteren Selbstmorden in Michael Zellers Freundes- und Bekanntenkreis, und endet mit einer höchst seltsamen Begegnung in einer Münchener Kneipe. da wird klar: Suizid ist für Zeller (auch) ein Lebensthema. Ob er will oder nicht.
"BruderTod" ist ein berührendes Buch. Eine sehr ehrliche Familiengeschichte. Das tut weh. Dem Autor wie dem Leser. Aber es befreit. Dass es einen sehr langen Anlauf braucht, bis man das schreiben kann — kein Wunder.