Der ESC-Blog des Wuppertaler Musikexperten Peter Bergener Der Schuss ging nach hinten los

Wuppertal · Nun bin ich wieder zurück aus Stockholm und kann auf zwei fantastische Wochen mit Sonne, Musik und wahnsinnig netten Menschen zurückblicken. Stockholm ist nicht nur die Hauptstadt von Schweden, sondern ist Skandinaviens größte Eventstadt.

Peter Bergener in der "Hallo of Fame" in Stockholm.

Foto: Peter Bergener

Hier gibt es nicht nur die großen Stadien, sondern auch die passenden Verkehrsanbindungen, was ich auch selbst vor Ort erleben und mit Freude tagtäglich nutzen konnte. Die Stadt gehört in Sachen Musik zu den weltweit führenden Städten. Sie ist einfach eine kreative Bühne, die nicht nur beispielsweise ABBA oder Avicii hervorgebracht hat, sondern auch "Spotify". Die Stadt lockt aber auch musikalische Talente aus der ganzen Welt an. Viele ziehen in diese schöne Stadt, um sich musikalisch inspirieren zu lassen.

Stockholm war also der richtige Ort, um den "Eurovision Song Contest 2016" auszurichten, den vergangenen Samstag sage und schreibe 200 Millionen Menschen live im Fernsehen gesehen haben. Darunter auch viele Fans im ESC-verrückten Australien und auch seit diesem Jahr in den USA, wo es ebenfalls erstmals eine Live-Übertragung geben wird. Das besondere Highlight war natürlich, dass der Pausenact der Weltstar "Justin Timberlake" war. Darin erkennt man den in den vergangenen Jahren gewachsenen Stellenwert des ESC als populärster Musikwettbewerb.

Dieses Jahr wurde bekanntlich die Ukraine der Sieger mit dem Song "1944" der Sängerin "Jamala", einem Song, der aufgrund seines Textes sehr brisant ist, da er von der Tötung der Krimtataren durch die Russen im Jahr 1944 handelt (siehe mein Artikel "ziemlich schwere Kost" in diesem Music-Blog der Wuppertaler Rundschau).

Die Ukraine hat damit den Wettbewerb zum zweiten Mal gewonnen: 2004 siegte Ruslana mit dem Song "Wild Dances" den Wettbewerb und das Event fand ein Jahr später in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, statt.

Bis zum Schluss war unklar, wer der Sieger 2016 werden würde. Es gab in diesem Jahr ein neues Punktesystem, welches in der Tat für Spannung sorgte. Es war eine radikale Regeländerung der Punktevergabe, denn die Wertungen der Jury und des Publikums wurden getrennt bekannt gegeben. Erst haben die Ansager aus den 42 Teilnehmerländern traditionsgemäß die zwölf Punkte genannt, aber nur die aus der Jury-Wertung. Danach erst gaben die Moderatoren der Show in Stockholm die Punkte bekannt, die sich aus der Abstimmung der Zuschauer ergeben. Angefangen wurde dabei mit dem Land, das am wenigsten Punkte bekommen hat, aufgehört mit dem Land, das die größte Publikumsunterstützung hat.

Samra aus Aserbaidschan mit Peter Bergener.

Foto: Peter Bergener

Damit sollte laut EBU dieses neue System dazu führen, dass auch ein in der Juryabstimmung noch auf Platz drei oder vier liegendes Land am Ende doch gewinnen kann. In den vergangenen Jahren stand der Sieger oft schon lange fest, bevor die Punktevergabe abgeschlossen war.

Und das konnten wir alle am Samstag spannend miterleben, denn die Jury-Wertung zeigte ganz klar Australien als Sieger, doch im allerletzten Moment bei der Bekanntgabe der Zuschauerpunkte, kam die Ukraine ganz knapp auf Platz eins vor Australien. Schade finde ich nur, dass ich nicht im Einzelnen die zwölf Punkte der Zuschauer eines jeden Landes erfahre, da diese Votings nur komplett mitgeteilt werden. Bei Interesse muss man das einzelne Ergebnis später im Internet auf Eurovision.tv nachlesen.

Über das Resultat, dass Australien nicht gewonnen hat, sondern Ukraine, kann man sich streiten, aber vergessen wir nicht, die Zuschauer haben die Ukraine auf Platz eins gesetzt. Mir gefällt der Siegersong sehr gut, sei es vom musikalischen Arrangement, vom Text, aber auch von der Stimme der Sängerin. Er ist schon etwas Besonderes.

Eines jedoch muss ich zugeben: Einen Chart-Hit der ESC-Siegerin Jamala kann ich mir leider nicht vorstellen. Das war ein Lied für einen Abend, aber werde dies mal in den nächsten Wochen verfolgen. Ich glaube, dass die Plätze zwei bis neun da eher in den Charts kommen werden. Hier noch einmal die ersten zehn Plätze:

1. Ukraine - 1944 — Jamala / 2. Australien - Sound Of Silence - Dami Im / 3. Russland - You Are The Only One - Sergey Lazarev / 4. Bulgarien - If Love Was A Crime - Poli Genova / 5. Schweden - If I Were Sorry - Frans / 6. Frankreich - J'ai cherché - Amir / 7. Armenien - LoveWave - Iveta Muckuchyan / 8. Polen - Color Of Your Life - Michal Szpak / 9. Litauen - I've Been Waiting For This Night - Donny Montell / 10. Belgien - What's The Pressure - Laura Tesoro

Und leider auf dem allerletzten Platz ist unsere Jamie Lee mit dem Song "Ghost". Jamie-Lee muss sich nichts vorwerfen, denn stimmlich war sie am Samstag brillant, aber ihr Song hat Europa nicht berührt. Die Frage, die ich mir schon lange stelle, ist_ Sollte ein Lied wie "Ghost", welches nach dem Sieg in "The Voice" nur bis auf Platz 11 der deutschen Charts geschafft hat und danach (auch nicht nach dem Sieg in der Vorentscheidung) gekommen ist, wirklich europamäßig ankommen? Der Schuss ging nach hinten los. Lediglich ein Jury-Punkt aus Georgien sowie zehn Punkte total von unseren Nachbarn der Schweiz und Österreich waren drin.

Vielleicht hätten wir doch dieses Jahr mit Ralph Siegel, den ich übrigens noch beim Abflug am Airport Arlanda getoffen habe, mehr Punkte erhalten. Ralph war zu Besuch beim ESC 2016 und produziert zurzeit mit Nicole ein neues Album. Schauen wir mal, was der NDR sich für 2017 vornehmen wird. Die Hoffnung auf einen deutschen Sieg in der Eurovision sollte man nicht aufgeben — oder zumindest die Hoffnung, mal wieder in die Top 10 zu kommen.

Die Ukraine hat es uns dieses Jahr vorgemacht, und ich war von der Aussage der Siegerin Jamala, die ich am Flughafen Arlanda getroffen habe, beeindruckt, als sie herzlich sagte: "Ich war sicher, dass man, wenn man singt, wenn man über die Wahrheit spricht, wirklich Menschen berühren kann." Ich habe jedoch nicht nur die Siegerin Jamala und Ralph Siegel, sondern auch die schöne Samra aus Aserbaidschan noch am Airport getroffen, die mit ihrem Song "Miracle" auf Platz 17 kam. Das war ja ein interessanter musikalischer Rückflug!

Ach, war das alles schön und ein herzliches Dankeschön (Tack så mycket) an Schweden! Viele musikalische Grüße, Euer Euro-Music-Peter!