Schockmoment am Solinger Gedenkort Wenn das Opferfoto einen Kollegen zeigt

Solingen / Wuppertal · Das Attentat von Solingen: Drei Menschen wurden erstochen, acht weitere Personen zum Teil schwerstverletzt. Um der Opfer zu gedenken, tritt ein Mann in Solingen an an den Gedenkort mit Blumen und Kerzen. Und blickt plötzlich in ein bekanntes Gesicht.

 Mitten zwischen Blumen und Kerzen am Gedenkort für die Solinger Opfer steht da plötzlich das Bild des Kollegen.

Mitten zwischen Blumen und Kerzen am Gedenkort für die Solinger Opfer steht da plötzlich das Bild des Kollegen.

Foto: privat

Als Jörg Neef am Samstag an der Gedenkstätte am Solinger Fronhof steht, kann er es nicht fassen: Auf dem gerahmten Bild, das jemand dort aufgestellt hat, erkennt er inmitten unzähliger Blumen seinen langjährigen Arbeitskollegen. „Ich wollte eine Kerze abstellen und dann schaue ich plötzlich auf das Foto“, spricht Neef über den Moment, als er in das Gesicht von Stefan S. (67) schaut. Sein Kollege soll eines der drei Opfer des terroristischen Anschlags auf dem Solinger Stadtfest sein, den kurz darauf der IS für sich reklamierte?

Jörg Neef ist fassungslos, in seinem Kopf geht alles durcheinander. Er nimmt sein Handy und macht ein Foto, später schickt er es an den Geschäftsführer der Kalkwerke Oetelshofen, wo er selbst als Instandhaltungsleiter arbeitet. Die Nachricht vom Tod des Kollegen verbreitet sich am Montagmorgen rasend schnell in der Firma, die Kalkwerke sind ein Familienunternehmen mit hundert Mitarbeitern, man kennt sich untereinander.

Stefan S. hat dort bis zur Rente gearbeitet, beinahe drei Jahrzehnte lang. „Alle paar Monate kam er hier immer noch mit Kuchen vorbei“, erzählt Jörg Neef. Ich bin dann mal weg, in Rente, auf Nimmerwiedersehen? Das sei nicht sein Ding gewesen, sagt Neef über Stefan S. Der sei ein „streitbarer Typ“ gewesen, mit Ecken und Kanten. Hin und wieder seien sie, Bürotür an Bürotür, auch mal aneinandergeraten. Dann hätten sie sich abends zum Bier verabredet und die Sache sei vom Tisch gewesen.

„An seinem letzten Arbeitstag hat er zu mir gesagt: Jetzt können wir uns doch duzen“. Das hätten sie von da an auch gemacht. Stefan S. habe ungewöhnliche Interessen gehabt, alte Straßenbahnen hätten es ihm angetan, dafür sei er durch ganz Deutschland gereist. Ein Snooker-Fan sei er gewesen, da hätte man ihn alles fragen können. Einmal habe er Stefan S. zuhause besucht, der habe damals vor seinem Haus gesessen und in die Sonne geschaut.

Als Jörg Neef über diesen Augenblick spricht, stockt ihm die Stimme. Warum er das alles erzählt? Der Solinger denkt nach, dann sagt er: „Man sollte den Opfern ein Gesicht geben.“ So sehen es viele der ehemaligen Kollegen von Stefan S., die ihn seit Jahren oder Jahrzehnten kannten. Einer von ihnen ist Benny Süß, er saß dem 67-Jährigen jahrelang am Schreibtisch gegenüber. Der sei ein „cooler Typ“ gewesen, „total liberal, ein gebildeter Mensch“, der immer alle Seiten habe verstehen wollen.

Mit Frachtschiffen sei Stefan S. unterwegs gewesen, im Urlaub, wochenlang allein in einer Kabine. Bei seiner Schwester, die auf Hawaii lebt, habe er 1000 Kokosnüsse aus dem Garten getragen. Ob Stefan S. zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sei? Nein, sagt Benny Süß, das „Festival der Vielfalt“ sei genau der richtige Ort gewesen. Er sehe seinen Kollegen in Gedanken dort stehen, irgendwo neben der Bühne, mit ein paar Freunden und einem Bier in der Hand.

Dort, wo Stefan S. noch vor zwei Jahren am Schreibtisch saß, hängt jetzt ein Bild von ihm. Till Iseke, der Geschäftsführer der Kalkwerke Oetelshofen, schreibt in einem Nachruf: „Lieber Stefan, Du warst uns Kollege und Freund zugleich und ein Mensch, der über den Tellerrand hinausschaut.“