Diskussion über Bürgergeld Tacheles gegen „100-Prozent-Sanktionen“

Wuppertal · Für den Wuppertaler Erwerbslosenverein „Tacheles“ sind die Überlegungen der Bundesregierung, Arbeitsverweigerinnen und -verweigern Teile des Bürgergeldes zu streichen, „weder geeignet noch verfassungskonform“. Die Stellungnahme im Wortlaut.

Symbolbild.

Foto: AlexanderStein

„Der zum Jahreswechsel bekannt gewordene Referentenentwurf aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) sieht neben weiteren Maßnahmen vor, durch verschärfte Sanktionen bei Leistungsberechtigten, die sich ,beharrlich verweigern‘, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen, einen jährlichen Beitrag zur Schließung der Haushaltslücke in Höhe von 170 Millionen zu leisten. Die geplanten Sanktionen umfassen die völlige Streichung des Regelsatzes zum Lebensunterhalt für die Dauer der Ablehnung eines konkreten Arbeitsangebots, längsten für zwei Monate. Dieser Politikansatz zur Haushaltskonsolidierung ist vor allem aus drei Gründen abzulehnen.

Zunächst weist Tacheles darauf hin, dass das angenommen Einsparvolumen unseriös festgesetzt wurde. Nach Berechnungen des Vereins müssten die Jobcenter wegen ,nachhaltiger Arbeitsverweigerung‘ unter Berücksichtigung der bereits existierenden Sanktionsregelungen pro Jahr über 210.000-mal Leistungen in Höhe des Regelsatzes vollständig für zwei Monate entziehen, um ein Sanktionsvolumen von 170 Millionen Euro zu realisieren.

Angesichts der aktuellen, durch bereits beschlossene Haushaltskürzungen unterfinanzierten Vermittlungskapazitäten der Jobcenter und mangels verfügbarer geeigneter Arbeitsstellen fehlt es in der Praxis schlicht an den nötigen Vermittlungsangeboten, bei denen eine beharrliche (willentliche) Verweigerung der Aufnahme eines tatsächlich verfügbaren Arbeitsplatzes rechtssicher festgestellt werden könnte.

Dieser Befund wird untermauert durch einen Blick auf die Sanktionsstatistiken der Bundesagentur für Arbeit aus den Jahren, bevor das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sanktionen ergangen war (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 5. November 2019, 1 BvL 7/16), als verschärfte Sanktionen im SGB II durchaus praktiziert wurden. Sanktionen bei Verweigerung der Beschäftigungsaufnahme erreichten niemals auch nur annähernd ein entsprechendes Ausmaß. Eine beharrliche Verweigerung der Aufnahme einer verfügbaren Stelle wurde statistisch gar nicht erfasst.

Zudem schreibt das BMAS selbst in der Begründung zum Gesetzentwurf, ,dass einige wenige Beziehende von Bürgergeld zumutbare Arbeitsaufnahme beharrlich verweigern […]‘ würden (Referentenentwurf vom 28. Dezember 2023, Seite 5). Man geht auch dort offensichtlich nicht davon aus, dass mit einer signifikant hohen Zahl von Totalverweigerungen gerechnet werden kann ...

Haushaltssanierungen mit Hilfe von Geldstrafen? Besteht seriöse Haushaltspolitik etwa auch darin, gravierende Haushaltslöcher mittels höherer Geldstrafen für Steuersünderinnen und -sündern oder der Verteilung von ,Knöllchen‘ für Falschparkende zu stopfen? Des Weiteren hat das Bundesverfassungsgericht in dem oben genannten Urteil von 2019 die Höhe der verhältnismäßigen Sanktionen auf 30 Prozent der maßgebliche Regelbedarfe für den Zeitraum von maximal drei Monate begrenzt, um den grundrechtlichen Schutz des menschenwürdigen Existenzminimums zu gewährleisten.

Zwar hat das Gericht höhere Leistungskürzungen im Einzelfall nicht ausgeschlossen, jedoch sind diese an sehr hohe Anforderungen geknüpft. So wurde unter anderem vom Gesetzgeber gefordert, Wirkungen und Folgen von Sanktionen unterhalb des Existenzminimums hinreichend zu untersuchen und zu dokumentieren. Tacheles kritisiert in diesem Zusammenhang, dass bis dato keine belastbaren empirische Studien zu den Auswirkungen von Sanktionen vorgelegt wurden. Zudem ist die im Gesetzentwurf verwendete Definition der Pflichtverletzung als eine „willentliche“ Weigerung, „eine zumutbare Arbeit aufzunehmen“, völlig unbestimmt und lässt sehr unterschiedliche Interpretationen zu, wann eine vollständige Kürzung des Regelbedarfe gerechtfertigt wäre und wann nicht.

Die vom Bundesverfassungsgericht formulierten strengen Auflagen bleiben unerfüllt. Die Gesetzesänderung fördert mithin Rechtsunsicherheit und bei der Umsetzung der Sanktionen wird Behördenwillkür Tür und Tor geöffnet. Weiter fehlt es an Regelungen, die das Existenzminimum der weiteren Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft gewährleisten und die Versorgung notfalls mit Sachleistungen sicherstellen. Verfassungsrechtliche Vorgaben werden hiermit unterlaufen, was eher zur Beschäftigung der Sozialgerichte führen wird, als Erwerbslose nachhaltig in Beschäftigung zu bringen.

Schließlich verbietet es sich, grundlegende verfassungsrechtlich relevante Normen im Existenzsicherungsrecht im Rahmen des Haushaltsgeschachers der Ampelkoalition wie auf dem Basar feilzubieten und leichtfertig zur Disposition zu stellen. Hierzu bedarf es einer sachlichen sozialpolitischen Debatte auf der Grundlage von Expertinnen- und Expertenwissen sowie wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dass die Koalition mit der Verschärfung des Sanktionsrechts für vermeintlich Arbeitsunwillige zudem ohne Not ins Horn jener Populistinnen und Populisten bläst, die sich darüber ereifern, Arbeit würde sich nicht mehr lohnen, weil Bezug von Bürgergeld zu lukrativ geworden sei, verschärft die gesellschaftliche Polarisierung.

Der Verein Tacheles fordert daher, die Verschärfung der Sanktionen als Beitrag zur Haushaltskonsolidierung ersatzlos zu streichen.“