Interview mit Pfarrerin Eva von Winterfeld Notfallseelsorge: „Amokläufe sind die Ausnahme“
Wuppertal · Pfarrerin Eva von Winterfeld koordiniert die ökumenische Notfallseelsorge in Wuppertal. Nach dem Amoklauf am Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium war sie mit einem Team vor Ort. Doch ihr Alltag als Notfallseelsorgerin sieht anders aus.
Der Amoklauf in Wuppertal hat bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Jetzt ziehen Sie mit Ihrem Team Bilanz. Was haben Sie erlebt?
von Winterfeld: „Wir waren mit insgesamt zehn Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger vor Ort. Einen solchen Großeinsatz hatten wir alle noch nicht erlebt. Neben der Wuppertaler Feuerwehr und Polizei waren auch zahlreiche Beamte, darunter das SEK, aus Düsseldorf da. Hinzu kamen etwa 30 Schulpsychologinnen und -psychologen und jede Menge Journalistinnen und Journalisten.
Wir wussten zunächst nur, dass es eine Messerstecherei gegeben haben soll. Besorgte Eltern waren auch da und warteten auf Informationen. Erst nach und nach erfuhren wir, dass niemand zu Tode gekommen ist und die Verletzten außer Lebensgefahr waren. Für alle war das eine totale Stresssituation. Zu unserer Aufgabe gehörte es, Ruhe da reinzubringen.“
Wie ist das gelungen?
von Winterfeld: „Bei solchen Einsätzen ist es immer ganz wichtig, engen Kontakt zum Einsatzleiter zu halten. Er koordiniert, wer wo und wie hilft. Einige von uns haben sich um die besorgten und verunsicherten Eltern gekümmert, andere um die Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte.
Nachdem der 17-jährige Schüler, der mehrere Mitschüler angegriffen und zwei davon schwer verletzt hatte, festgenommen worden war, ist eine Notfallseelsorgerin mit den Zeuginnen und Zeigen des Attentats zur Polizeiwache gefahren. In dieser ersten akuten Phase halten wir die Situation mit aus und hören vor allem zu. Ich habe den Großeinsatz als sehr professionell erlebt.“
Sie waren auch in den Tagen danach noch für die Schülerinnen und Schüler da. Was hat diese am meisten beschäftigt?
von Winterfeld: „Ein großes Thema war die Darstellung des Amoklaufs in den Medien. Viele in der Schule und auch ich empfanden die Vehemenz des Auftretens einiger Journalisten als höchst aggressiv und distanzlos. Ich bekam mit, wie sie Schülerinnen und Schüler am Tag nach der Tat regelrecht abgefangen haben, um Zitate und O-Töne zu bekommen. Da frage ich mich schon, wo die ethisch-moralischen Grenzen in unserer Gesellschaft sind.
Viele Schülerinnen und Schüler haben den Täter als interessiert, höflich und klug erlebt. Sie fanden es ungerecht, dass über ihn nur als psychopatischen Attentäter mit Migrationshintergrund berichtet wurde. Viele wünschten sich, dass er Hilfe bekommt und nicht als Verbrecher behandelt wird. Auch um die verletzten Mitschüler waren die Kinder und Jugendlichen besorgt. Und es ging um die Bewältigung der eigenen Angst, die sie ausgestanden haben. Manche fragten mich, wie sie die Bilder von diesem Großeinsatz an ihrer Schule wieder loswerden.“
Eine Frage, die Ihnen vermutlich häufiger von Menschen gestellt wird, die sie als Notfallseelsorgerin begleiten.
von Winterfeld: „Wer einen geliebten Menschen durch Suizid oder einen Unfall verliert oder – was den Großteil unserer Begleitung in der Notfallseelsorge betrifft – eine erfolglose Reanimation miterlebt, hat diese Bilder noch lange im Kopf. Doch sie werden in der Regel mit der Zeit schwächer. Auch die Bilder der Rettungskräfte, Polizisten, Kripo und Bestatter, die in der Wohnung oder am Unfallort sind, verfolgen viele Angehörige noch lange. Das alles ist traumatisierend.
Deshalb ist es so wichtig, dass es uns Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger gibt. Wir suchen in der ganzen Hektik einen ruhigen Platz, wo wir uns mit den Angehörigen hinsetzen, hören ihnen zu und halten mit ihnen das Schlimmste aus, das sie gerade erleben müssen. Bevor wir gehen, sorgen wir dafür, dass die Menschen möglichst nicht alleine bleiben, sondern ihnen Freunde, Bekannte oder Nachbarn dabei helfen, die nächsten Schritte zu gehen.“
Welche Einsätze sind besonders herausfordernd?
von Winterfeld: „Für die meisten Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger gehört der Tod von Kindern dazu. Sehr belastend fand ich es aber auch, als ich zu einem Kind gerufen wurde, das seine alleinerziehende Mutter gefunden hat, nachdem sie sich suizidiert hatte. Generell geht einem der Tod von jungen Menschen sehr nahe.“
Wenn möglich, vermeiden die meisten Menschen Tod und Trauer. Warum setzen Sie sich dem schon elf Jahre als Notfallseelsorgerin aus?
von Winterfeld: „Die Motivation für uns als Kirchen ist die Nächstenliebe. Wir halten es für zentral, Menschen in Momenten von Tod und Trauer zu begleiten. Wir sind da, haben Zeit und versuchen, Halt zu geben. Wir kommen mit der Hoffnung unseres Glaubens, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Ich fühle mich von Gott getragen und das bringt mich in die Lage, etwas vom Leid der Anderen mitzutragen.
Welche Religion der Mensch, den ich begleite, hat und ob er überhaupt an Gott glaubt, spielt dabei keine Rolle. Und auch wenn die Menschen, denen ich zur Seite stehe, nicht an Gott glauben, ist es nicht ausgeschlossen, dass ein Gebet oder ein Segen gesprochen wird. Eine Frau begründete das mit dem schönen Satz: ,Damit ich weiß, dass mein Vater gut aufgehoben ist‘.“