Bundestagswahl 2017 Kandidaten-Clash — ein Protokoll
Wuppertal / Berlin · Knapp 60 Minuten und rund 600 Meter voneinander entfernt sprachen am Mittwoch die Spitzenkandidaten von Linken und SPD — Sahra Wagenknecht (Willy-Brandt-Platz) und Martin Schulz (Laurentiusplatz) — in Wuppertal.
Mit einigen Unterschieden, aber so mancher Gemeinsamkeit ...
15 Uhr: Der erste raue Herbstwind fegt über den Willy-Brandt-Platz, die Menschen stehen dicht beieinander. Alternative, Senioren, Studenten, Migranten, Intellektuelle, freundliche Gesichter. Reich sieht niemand aus. Ein paar haben sich Bierflaschen mitgebracht, auf der Bühne dreht eine Band Popsongs auf Links und rotzt sie ins Mikro. Schlagzeug, harter Bass, Aufbruchsstimmung. Und: Warten auf den Rockstar.
15.55 Uhr: Laurentiusplatz. Die letzten Töne der Band auf der Bühne verklingen. Gefällige Coversongs, nicht ganz aktuell. "Jamiroquai" und so. Rechts daneben sind Bilder vom SPD-Kanzlerkandidaten auf der Leinwand zu sehen. Martin Schulz, wie er Hände schüttelt, den Schumi-Daumen macht, durch eine elektrisierte Menge geht. Strahlend, zuversichtlich, siegessicher.
15.30 Uhr: Sahra Wagenknecht kommt im blauen Kostümkleid, aber rockstarlike eine halbe Stunde zu spät. Sie wirkt ein bisschen weit weg von ihrem Publikum, sie ist die Einzige, die hier heute Nachmittag nach fettem Business aussieht. "Liebe Freunde", sagt Wagenknecht ins Mikrofon. Die Menge gehört jetzt ihr.
16 Uhr: Vor der Bühne macht sich Ungeduld breit. Fähnchen mit Schulz-Konterfei werden geschwenkt, Transparente in die Luft gehalten, Köpfe gereckt — junge, alte, männliche, weibliche: Wo ist Schulz? Wolken jagen über den Himmel, der Wind wird stärker, dann ist er da. Endlich.
15.35 Uhr: "Ich finde es besonders schön, heute auf dem Willy-Brandt-Platz aufzutreten", sagt Wagenknecht höhnisch. "Und Schulz ist auch in der Stadt, auf irgendeinem Platz." Sie weiß Bescheid und stellt sich als Nachfolgerin hinter den großen SPD-Kanzler, wenn sie zitiert: "Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen."
16.05 Uhr: Die Menge teilt sich — und dann, durch ein Spalier kommend, untermalt von der Coldplay-Hymne "Viva la Vida" schreitet er über den Laurentiusplatz. Der Martin. Ihr Martin. Ihre Hoffnung. Schulz winkt in die Menge, er lächelt, schüttelt die ein oder andere Hand. Einer zum anfassen. "Ich freue mich sehr", sagt er. Und: "Es ist eine Ehre, dass der Oberbürgermeister heute gekommen ist."
15.40 Uhr: Es folgt ein Angriffshagel auf die anderen Parteien, mit klug sortiertem Muster. Nach und nach knöpft sich Wagenknecht die Plakate der SPD und CDU vor und kontrastiert sie mit deren Politik. Löhne, Familien, Sicherheit und Ordnung, Rente, Steuern, Rüstungs- und Friedenspolitik. Die anderen sind: scheinheilig, korrupt, heuchlerisch. Die Linken: ehrlich, unabhängig, die wahren Gerechten.
16.15 Uhr: Schulz ist in Fahrt. Die Rente mit 70 und die Mietpreisbremse hat er schon — mit den entsprechenden Seitenhieben gegen Merkel — hinter sich gelassen. Jetzt wendet er sich den alleinerziehenden Frauen zu. Auch um sie wird sich nicht gekümmert, findet Schulz. Nach ein paar Sätzen findet er die Überleitung zu Kassen- und Privatpatienten und weiter zur Generation Praktikum. Sie alle habe die Regierung im Stich gelassen. Man kommt ins Grübeln: Gehört die SPD nicht auch zur Großen Koalition?
15.45 Uhr: Wagenknecht kann auch konkret. Auf jeden Angriff folgt die linke Lösung. Reichensteuer, Investitionen in den sozialen Wohnungsbau, Spitzensteuersatz von 75 Prozent, Vermögenssteuer, Rentensystem nach österreichischem Vorbild.
16.30 Uhr: Schulz schimpft auf Merkel. Auf ihr "Alles ist gut. Uns geht's doch guut. Deutschland geht's doch so guuut." Er wird lauter und schimpft, solidarisiert sich weiter mit den Verlierern der Gesellschaft. Er beherrscht das perfekt. Mit seinem Aachener Slang und seiner direkten Art erzeugt er bei den Besuchern dieses "Er ist einer von uns"-Gefühl. Und weil er das weiß, betont er noch, dass er kein Abitur hat. "Meine Anzüge sind von der Stange und die Brille ein Kassengestell — was glauben Sie, was man mir alles vorwirft?! Mannomann, als wäre das wichtig. Nein, ich bin stolz darauf!" Jubel, Applaus.
16.10 Uhr: Wagenknechts Stimme wird noch einmal lauter, ihre rechte Hand schnellt immer wieder auf das Rednerpult. "Wir sind die einzige Partei, die unabhängig und nicht käuflich ist und deshalb geben Sie am 24. September Ihre Stimme für die Linken." Die Menge applaudiert, viele mit den Händen über dem Kopf. Wagenknecht rauscht von der Bühne und gleitet in das bereitstehende Auto, sie tritt gleich in Düsseldorf auf. Ein älterer Herr sagt enttäuscht zu seinem Freund. "Schade, heute gibt's für mich kein Autogramm."
16.45 Uhr: Schulz spielt sowas wie Dieter-Thomas Heck in der ZDF-Hitparade: Es gibt einen Themen-Schnelldurchlauf. Stakkatoartig erwähnt er noch einmal alle (Wähler-)Schichten, denen er helfen will, verspricht bei den Missständen: "Das wird's mit mir als Kanzler nicht geben." Dann richtet er sein Wort gezielt an die jungen Leute: "Denkt an Brexit, denkt an Trump — geht wählen! Auch wenn ihr Samstag echt hart gefeiert habt. Ihr könnt locker bis 16 Uhr pennen, denn die Wahllokale haben bis 18 Uhr geöffnet." Dann verspricht er zu kämpfen. "Nicht aus Selbstzweck — aus Überzeugung. Für Sie!" Wieder Applaus. Noch einmal winkt er, lacht, strahlt Zuversicht aus. So wie auf den Fotos. Und dann verlässt er zu "Viva la Vida" die Bühne. Der nächste Termin wartet schon ...
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